Auf den Spuren des Polarfuchses (2009)

Verfasst: Ende 2009

Unterwegs in der Wildnis Hornstrandirs

Juni/Juli 2009

Prolog

Schuld an allem ist ein Reiseführer.

Lediglich einen Bewohner gebe es noch in Hornstrandir, auf dem Leuchtturm von Látravík. 580 Quadratkilometer unbewohntes Land, bis zu 530 Meter hohe Steilklippen, nahezu unberührte Wildnis. Eine der letzten in Europa. Kein befahrbarer Weg führe durch die subpolare Landschaft. Nur mit kleinen Booten könne man im Sommer die entlegenen Fjorde erreichen. Wer dorthin wolle, müsse für die gesamte Zeit Ausrüstung und Verpflegung mitnehmen. Außer Wasser. Das gebe es zur Genüge.

So etwa stand es in einem Reiseführer zu lesen, den ich an einem der langen nordischen Abende im August 2004, während meiner ersten Islandreise, vor dem Zelt sitzend, durchblätterte. Den letzten Anstoß gab ein Foto in dem wunderschönen Bildband Lost in Iceland des isländischen Fotografen Sigurgeir Sigurjónsson. Zwei einsame Wanderer unter einem wolkenverhangenen Himmel in einem Fjord in HornstrandirEngelwurz überwuchert das Treibholz an der Küste. Ein düsteres Bild. Nicht unbedingt ein Traumreiseziel.

Dorthin muss ich, dachte ich im Stillen. Lange dämmerte der Wunsch in meinem Hinterstübchen vor sich hin, geriet wieder in Vergessenheit, hatte sich aber hartnäckig festgesetzt. Viele geheime Wünsche bleiben einem als solche erhalten, manche gehen in Erfüllung. Im Sommer 2009 ist es soweit.

Zu viert, meine zwei Brüder Andreas und MichaelLudwig, ein Freund von Andreas und ich, brechen wir nach Hornstrandir, im nordwestlichsten Winkel Islands gelegen, auf. In dieser Konstellation waren wir schon zusammen am Jubiläumsgrat zwischen Zug– und Alpspitze unterwegs, wir wissen also, dass wir gut harmonieren. Doch je näher die Reise rückt, desto mehr Zweifel kommen auf, ob wir den Anforderungen der Tour auch gewachsen sind. Zwar sind wir alle mehr oder weniger erfahrene Wanderer, aber mit einem wirklich schweren Rucksack war ich schon lange nicht mehr unterwegs. Alles, was wir auf unserer zehn- bis elftägigen Tour benötigen, müssen wir mit uns führen. Ein 15 Kilogramm schwerer Rucksack wäre ideal, hatte ich im Rahmen der Planung gedacht, aber es war mir klar, dass wir wohl kaum unter 20 Kilogramm bleiben würden. Als ich kurz vor unserer Abreise auf der Waage stehe, zeigt sie gut 25 Kilogramm für das Ungetüm auf meinem Rücken an (einen so schweren Rucksack hatte ich zuletzt vor mehr als 25 Jahren auf einer unserer Wintertouren durch die Westtatra in der Slowakei geschleppt). Hinzu kam die knapp vier Kilogramm schwere Tasche mit der Fotoausrüstung. Insgesamt fast 30 Kilo. Ein Spaziergang würde es nicht werden.

Andi und Micha sind Ärzte, Ludwig ist wie ich Physiker. So sollten wir für alle medizinischen und technischen Notfälle gerüstet sein. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir noch einen Koch in unserer Runde gehabt hätten. Vielleicht aber auch nicht, denn dann wären unsere Rucksäcke möglicherweise doppelt so schwer geworden.

Zu Hause das letzte richtige Mittagessen für die nächsten zwei Wochen, wir schlagen uns den Bauch mit Nudeln und Sauce Bolognese voll. Gemeinsam gehen wir ein letztes Mal die Ausrüstungsliste durch. Was wir jetzt noch vergessen haben, brauchen wir nicht. Unsere Tour kann beginnen.


Flug nach Reykjavík

Donnerstag, 25.Juni

Wir sind auf dem Weg zur S-Bahn, die uns zum Flughafen München bringen wird. Es ist schwülwarm und gewittrig, wir kommen mit unseren schweren Rucksäcken das erste Mal ins Schwitzen. Auf dem Flughafen sind wir froh, sie erst einmal wieder loszuwerden.

Mit SAS geht es zunächst nach Kopenhagen, einen Direktflug hatten wir nicht mehr bekommen, obwohl wir schon frühzeitig gebucht hatten. Der Service bei SAS ist nicht gerade berauschend. Ich finde es zwar überflüssig, wenn auf jedem noch so kurzen Flug eine Mahlzeit gereicht wird, aber diesmal gibt es selbst ein Glas Wasser nur gegen Bezahlung. Und die fällt nicht zu knapp aus.

Deutschland liegt unter einer dichten Wolkendecke. Eine gute Stunde nach unserem Abflug landen wir in Dänemarks Metropole. Knapp zwei Stunden Aufenthalt, dann besteigen wir den Airbus von Icelandair. Wir sitzen bereits auf unseren Plätzen, als Micha aufgerufen und gebeten wird, das Flugzeug noch einmal zu verlassen. Gespannte Ruhe. Nach zehn Minuten kehrt er zurück, mit einem säuerlichen Grinsen im Gesicht. Die zwei Gaskartuschen, die er im Rucksack hatte, sind den wachsamen Augen der Gepäckkontrolle zum Opfer gefallen. Den in zwei Plastikflaschen abgefüllten, zur Aufbesserung unseres abendlichen Tees gedachten Stroh-Rum nahmen die Kontrolleure glücklicherweise nicht in Augenschein, sie gaben sich mit der Auskunft zufrieden, dass es sich um Wasser handle.

Wir hatten uns vor der Reise aus Gründen der bequemeren Handhabbarkeit für Gaskocher entschieden. Bisher war ich immer mit einem Benzinkocher unterwegs. Benzin ist überall zu bekommen und hat zudem einen höheren Brennwert als Gas. Der einzige Nachteil ist, dass man sich übelriechende Finger holen und auslaufendes Benzin im schlimmsten Fall einen ganzen Rucksack verderben kann. Dass man Gaskartuschen im Flieger nicht mitführen darf, steht zwar überall geschrieben, hatte mich aber bisher nie interessiert. Eine grobe Nachlässigkeit. Hoffentlich bekommen wir in Ísafjörður noch Ersatz, sonst ist unsere gesamte Tour in Gefahr.

Landeanflug auf Keflavík

Der Flug nach Reykjavík verläuft ruhig, hier gibt es zumindest (nichtalkoholische) Getränke ohne Aufpreis. Auch Island hüllt sich in Wolken. Gegen neun Uhr abends Ortszeit landen wir in Keflavík. 15 Grad, leichter Regen, so lautet die Vorankündigung des Flugkapitäns. Und mit Welcome to the moon begrüßt er uns auf Island. Unser Shuttle-Bus wird eine gute halbe Stunde bis zum Busterminal in Reykjavík brauchen. Durch das Fenster betrachten wir die zunächst wieder ungewohnte Landschaft. Die Erdoberfläche auf der Halbinsel Reykjanes sieht aus wie die Momentaufnahme eines brodelnden Lavasees. Bis zu zwei, drei Meter hoch aufgeworfene Blasen, immer wieder Risse, alles bewachsen von graugrünem Moos und Flechten. In Richtung Norden hat die Wolkendecke eine scharfe Grenze, dort scheint das Wetter besser zu sein. Über den Faxaflói hinweg grüßen die Berge von Snæfellsnes, deutlich ist der Gletscher des Snæfellsjökull zu erkennen.

Abendstimmung über dem Faxaflói

Wir verlassen den Bus, es fällt leichter Sprühregen. Die tiefstehende Vormitternachtssonne taucht alles in ein warmes Licht. Perlan, die imposante Glaskuppel auf dem Hügel Öskjuhlið, schimmert bläulich. Von dort aus wird Reykjavík und das Umland mit Heißwasser aus mehreren Bohrlöchern versorgt. Die bekannte Hallgrimmskirche, das Wahrzeichen Reykjavíks, ist leider eingerüstet. 

Zunächst fallen wir in ein für Island typisches Fast-Food-Restaurant ein, schließlich haben wir seit fast zwölf Stunden nichts mehr gegessen. Ursprünglich hatten wir vor, den nächstgelegenen Campground aufzusuchen, aber wir beschließen, dass es sich für die wenigen Stunden nicht lohnt, dort unser Zelt aufzuschlagen. Unser Anschlussflug nach Ísafjörður geht um sieben Uhr. So begeben wir uns, nachdem wir unseren Hunger gestillt haben, gleich zum nahegelegenen Inlandsflughafen, vielleicht ist er ja geöffnet.

Er ist es nicht. Wir fragen einen Flughafenangestellten, der Nachtdienst hat, ob wir unter dem Vordach des Gebäudes nächtigen können. Kein Problem, meint er. Die Iso-Matten und Schlafsäcke sind schnell ausgerollt, und nach kurzer Zeit steht unser provisorisches Nachtlager. Beim Auspacken seines Rucksacks wartet auf Ludwig die nächste böse Überraschung. Anstelle der Gaskartusche findet er einen Zettel mit dem Hinweis, dass selbige am Flughafen München entfernt wurde. Nun sind wir dringend auf Ersatz angewiesen.

Von unseren Schlafsäcken aus haben wir einen prächtigen Blick auf den von der Mitternachtssonne blutrot gefärbten Himmel. Die nächsten knapp zwei Wochen werden wir Tageslicht rund um die Uhr haben.

Biwak vor dem Flughafengebäude
Mitternachtssonne über Reykjavík

Später, wieder zurück in Deutschland, erfahre ich aus dem Internet, dass es wenige Stunden vor unserer Ankunft, gegen halb sechs, in Reykjavík ein Erdbeben der Stärke 4 gegeben hat. Wir bekommen davon nichts mit. Kleinere Beben sind auf Island so normal, wie bei uns ein Sommergewitter.


Reykjavík – Ísafjörður

Freitag, 26.Juni

Gegen fünf Uhr ist die Nacht für uns zu Ende. Die Mitarbeiter des Flughafens kommen zur Arbeit, wenig später treffen die ersten Fluggäste ein. Die Nacht war zwar etwas kurz, aber wir haben gut geschlafen. Als das Flughafengebäude gegen sechs Uhr öffnet, holen wir uns einen Kaffee. Der weckt die Lebensgeister.

Der Himmel an diesem Morgen ist noch immer bedeckt, nur ganz weit im Norden, hinter dem Faxaflói, ist wieder eine scharfe Wolkengrenze zu erkennen. Das lässt hoffen.

Vor dem Flughafengebäude lernen wir René kennen. Er kommt aus Köln und will als Einzelkämpfer nach Hornstrandir. Wir werden einander noch des öfteren begegnen.

Die ersten Flüge an diesem Tag gehen nach Akureyri und Egilsstaðir, bevor gegen halb acht unser Flug nach Ísafjörður aufgerufen wird. Ohne Hast schlendern wir über das Rollfeld zum Flugzeug. Ich mag diese kleinen Flughäfen viel lieber als die großen, wo man per Bus oder durch sterile Röhren ohne Tageslicht zu seinem Platz im Flieger gelangt. Unsere Fokker 50, eine kleine zweimotorige Propellermaschine, steht schon auf dem Rollfeld.

Unser Flugzeug nach Ísafjörður

Der Eindruck vom Morgen hat nicht getrogen. Während die Halbinsel Reykjanes unter einer Wolkendecke liegt, wird das Wetter immer besser, je weiter wir nach Norden kommen. Bereits nach einer knappen Dreiviertelstunde sind wir am Ziel unserer Reise. Die Westfjorde sind weitgehend wolkenfrei, und so können wir das Gebiet, in dem wir uns in den nächsten gut zehn Tagen bewegen werden, schon einmal aus der Luft in Augenschein nehmen. Im Fjord von Ísafjörður hält sich noch eine dünne, aber zähe Nebelschicht. Das Flugzeug vollführt beim Landeanflug im Fjord eine gewagte Schleife und kommt dabei den steil aufragenden Bergen gefährlich nahe. Zumindest erscheint es uns so, der Pilot wird wohl wissen, was er tut.

Bei der Landung habe ich, wie schon bei den beiden vorangegangenen Flügen, unerträgliche Schmerzen in den Ohren. Offensichtlich funktioniert mein Druckausgleich nicht. Das habe ich sonst nur, wenn ich eine Erkältung habe oder eine solche im Anmarsch ist. Ich denke mir aber nichts weiter dabei. Ein paar Tage später wird sich zeigen, was es damit auf sich hat.

Als wir das Flugzeug verlassen, empfängt uns angenehm freundliches Wetter. Sonnenschein und eine Lufttemperatur um die 15 Grad. Wir packen unsere Rucksäcke noch ein wenig um und begeben uns auf den Weg nach ÍsafjörðurRené begleitet uns.

Blick nach Ísafjörður

Bis in die Stadt sind es etwa fünf Kilometer, die erste längere Strecke mit dem Ballast auf dem Rücken. Die Straßenränder sind großflächig gesäumt von blau leuchtenden Alaska-Lupinen, gelegentlich mischen sich kleinere Ansammlungen von Wollgras darunter. Auch Hahnenfuß und Löwenzahn sind vertreten. Im kurzen subarktischen Sommer scheint die Natur förmlich zu explodieren.

An einem Supermarkt machen wir halt und starten unseren ersten Versuch, die abhanden gekommenen Gaskartuschen zu ersetzen. Leider Fehlanzeige. Wir hoffen auf Ísafjörður.

Wir sind bereits in der Stadt, als René plötzlich verschwunden ist. Beim Vor-uns-hin-Trotten haben wir nicht bemerkt, dass einer fehlt. An der Tankstelle unser nächster Versuch. Wieder Fehlanzeige. Zwar haben sie Gaskartuschen, aber leider nicht die zu unserem Kocher passenden.

Nächstes Ziel ist die Touristen-Information, wir müssen uns um das Boot kümmern, das uns hinüber nach Hornstrandir bringen und von dort wieder abholen wird. Eigentlich wollten wir dies noch von Deutschland aus erledigen, aber um flexibler zu sein, buchen wir nun doch vor Ort. Eine gute Entscheidung, wie sich zeigt. Unsere ursprüngliche Planung sah vor, von Hesteyri aus über Aðalvík, Fljótsvatn und Hornvík nach Látravík zu gehen. Der Weiterweg von dort aus sollte uns über BarðsvíkBolungarvíkFurufjörður zum Hrafnfjörður führen. Wenn noch Zeit sein sollte, war ein Abstecher auf den Drangajökull geplant.

Bei den Verhandlungen mit der netten Dame von Sjóferðir stellen wir fest, dass wir zum gewünschten Zeitpunkt kein Boot bekommen, welches uns im Hrafnfjörður wieder abholt. Micha kommt auf die rettende Idee: wir drehen die Tour einfach um. Am darauffolgenden Tag führe nämlich ein Boot in den Hrafnfjörður, und Hesteyri wird fast täglich bedient. Die Umkehrung der Tour hätte zudem den Vorteil, dass wir im Falle schlechten Wetters oder anderer unvorhergesehener Umstände ab Hlöðuvík zweimal die Möglichkeit hätten, nach Hesteyri abzukürzen, um rechtzeitig unser Boot zu erreichen.

Nachdem wir unsere Tickets in der Tasche haben, begeben wir uns wieder nach draußen. Nun gilt es noch, neue Gaskartuschen aufzutreiben. Bei einem Outdoor-Ausrüster im Hafengelände werden wir endlich fündig. Die Kartuschen sind zwar teurer als in Deutschland, aber wir sind froh, dass unsere Tour gerettet ist.

Plötzlich ist auch René wieder da, ohne Rucksack. Er ist im Edda-Hotel von Ísafjörður untergekommen. Die hätten auch einen Campground, berichtet er, und den steuern wir als nächstes an. Die über ganz Island verteilten Edda-Hotels sind eine gute und preiswerte Übernachtungsmöglichkeit  für Leute, die keine großen Ansprüche an Komfort stellen. Zwei oder drei Zelte stehen bereits auf dem schönen Terrain, nebenan ist der Fußballplatz von Ísafjörður.

Wir schlendern noch einmal zurück ins Stadtzentrum, wollen noch ein Bier trinken, bevor morgen unser Abenteuer beginnt. Wir sitzen draußen vor dem Lokal, es ist angenehm warm. René ist mitgekommen, und wir tauschen unsere Erlebnisse auf vergangenen und Wünsche für zukünftige Reisen aus. René hat geplant, die übliche Route von Hesteyri nach Látravík und wieder zurück zu gehen. Wir werden morgen mit demselben Boot starten.

Heute, am Freitagabend, flanieren die Leute von Ísafjörður auf der Straße, wobei das hier so aussieht, dass sie mit ihren Autos gemächlich (!) die Straßen entlangtuckern. Große geländegängige Wagen sind in Island eine Art Statussymbol. Je höher das Auto, je größer die Reifen, desto besser. Mancher Wagen fährt drei-, viermal an uns vorbei.

Zurück auf dem Zeltplatz werfen wir den Gaskocher an und bereiten uns ein schmackhaftes Nudelgericht, schließlich haben wir heute noch nichts gegessen. Bald liegen wir in unseren Schlafsäcken. Auf dem Fußballplatz nebenan bolzen bis weit nach Mitternacht ein paar Jugendliche.

Leise surrt der Gaskocher

Hrafnfjörður – Skorarvatn – Drangajökull

Samstag, 27.Juni

Um sieben sitzen wir am Frühstückstisch im Edda-Hotel und genießen das üppige Angebot. Für die nächsten elf Tage die letzte reichliche Mahlzeit.

Als wir uns mit unseren Rucksäcken auf den Weg zum Hafen machen, hängt über Ísafjörður noch eine zähe Nebeldecke. Unser Boot wartet schon. Gegen halb zehn heißt es “Leinen los”. Die Luft ist kühl, der Fahrtwind auf dem Boot lässt uns schnell unsere warmen Jacken herausholen.

Mit etwa 18 Knoten pflügt das Boot durch den Ísafjardardjup gen Nordost. Der dichte Nebel gibt den Blick auf die umliegenden Berge immer nur für wenige Momente frei. Der Kapitän sitzt, die Hände in den Schoß gelegt, am Steuer. Das Boot sucht sich seinen Weg mit Hilfe eines GPS allein. Gelegentlich wählt der Kapitän mit seiner Maus irgendeinen Menüpunkt am Monitor aus, das ist alles, was er, abgesehen vom Ab- und Anlegen, manuell zu tun hat.

Nach einer Dreiviertelstunde verlangsamt das Boot seine Fahrt, wir nähern uns dem Anlegesteg von Hesteyri. Schemenhaft tauchen drei, vier bunte Holzhäuser aus dem Nebel auf. René verlässt das Boot, wir wünschen uns gegenseitig gutes Gelingen. Weitere Fahrgäste steigen aus, ein paar junge Männer zu, sie haben Ihre Tour offenbar schon hinter sich.

Hesteyri im Nebel

Als nächstes steuert das Boot den Veiðileisufjörður an. Ein isländisches Ehepaar mit seiner etwa zwölfjährigen (sic!) Tochter macht sich fertig zum Aussteigen. Sie haben ziemlich große Rucksäcke dabei. Respekt! Langsam lichtet sich auch der zähe Nebel. Steil ragen die den Fjord säumenden Berge in die Höhe. Am relativ flachen Ufer im letzten Zipfel des Fjords sind außer einem der typischen, mit einem Spitzdach versehenen Toblerone-Toilettenhäuschen keine Spuren irgendwelcher Zivilisation zu erkennen.

Da es keinen Landungssteg gibt, werden die drei mit dem Schlauchboot an Land gebracht. Der Kapitän kümmert sich in der Zwischenzeit um die Säuberung der über und über mit Tang und Muscheln bedeckten Boje, an der das Boot Halt gemacht hat.

Nach kurzem Aufenthalt geht es weiter. Die nächsten Ausstiegskandidaten sind wir. Als wir den Hrafnfjörður erreichen, hat sich die Sonne endgültig durchgesetzt. Auch wir werden mit dem Schlauchboot angelandet. Der Bootsführer reicht uns unsere Rucksäcke und verabschiedet uns wortkarg, bevor er zurück zu seinem Mutterschiff fährt. Kurze Zeit später entschwindet es unseren Blicken. Es ist gegen ein Uhr mittags.

Die Rucksäcke liegen auf den vom Wasser rundgeschliffenen Steinen am Strand unseres Fjords. Die angenehm warme Sonne tut gut nach der kühlen Bootsfahrt. Wir sind allein. Jetzt gibt es kein zurück mehr, in elf Tagen wird uns das Boot in Hesteyri wieder abholen. Hoffentlich.

Hrafnfjörður: das Schlauchboot fährt zurück

Wir schultern die Rucksäcke, nehmen noch einen Blick auf die Karte. Ich schalte das GPS ein, möchte alle unsere Tracks aufzeichnen. Irgendwo in der Nähe muss es laut Karte eine Schutzhütte geben. Wir gehen durch üppig grüne Wiesen entlang der Küstenlinie. Allenthalben finden sich Ansammlungen von Rosenwurz und Stengellosem Leimkraut. Bald kommen die Schutzhütte und das Toilettenhäuschen in Sicht. Wir werfen einen Blick ins Innere der Holzhütte. Sie bietet im Ernstfall mehreren Wanderern Platz und ist mit einigen Nahrungsmitteln und medizinischen Notfallartikeln ausgestattet. Die Schutzhütten sind nur für den Notfall gedacht und sollten nicht als willkommene Gelegenheit genutzt werden, das Zelt nicht aufbauen zu müssen.

Stengelloses Leimkraut

Wir wollen heute bis zum See Skorarvatn aufsteigen. Der See liegt in einem Hochtal in etwa 200 m Höhe. Dort wollen wir unser erstes Camp aufschlagen und von da aus am Nachmittag noch eine Tour auf den Gletscher, den Drangajökull unternehmen.

Langsam steigt das Gelände an. In der Ferne ist das Rauschen der Skorara, eines aus den Bergen kommenden Flusses zu hören. Ein Weg ist selten, und dann nur andeutungsweise zu erkennen. Wir kommen an eine Holzbrücke, die die Skorara überquert, und machen kurz Rast. Der über die Brücke verlaufende Weg, so scheint es uns, führt zu weit von unserem Ziel weg. So entscheiden wir, diesseits des Flusses weiter aufzusteigen.

Kurze Zeit später kommen wir an einem eindrucksvollen Wasserfall vorbei. Es liegt für diese Jahreszeit noch viel Schnee in den Bergen, bis zum Ende unserer Tour werden wir etliche Schneefelder zu überqueren haben. Das derzeit warme Wetter lässt den Schnee schmelzen und die Flüsse anschwellen.

Wasserfall der Skorara

Vielleicht hätten wir doch die Brücke unten im Tal nehmen sollen, irgendwie müssen wir jetzt über den Fluss. Oberhalb des Wasserfalls suchen wir eine geeignete Stelle. Die einzige Möglichkeit zum Hinüberwechseln ans andere Ufer bietet eine Schneebrücke. An einigen Stellen hat sie schon Löcher, die von bläulich schimmerndem Eis umgeben sind und den Blick auf die reißenden Wassermassen freigeben. Risikoabwägung: es ist kein ganz ungefährliches Unternehmen, aber die einzige Möglichkeit hinüberzukommen, ohne einen längeren Umweg in Kauf nehmen zu müssen.

Ich entledige mich meines Rucksacks und teste vorsichtig die Tragfähigkeit der Schneebrücke. Anzeichen von versteckten Spalten sind nicht zu erkennen. Dreißig Sekunden mulmigen Gefühls, dann bin ich drüben. Die Brücke scheint als Übergang zu taugen. Also zurück, Rucksack schultern und einer nach dem anderen so schnell es geht, das Ufer wechseln. Alle langen wohlbehalten an.

Der restliche Aufstieg zum Skorarvatn ist problemlos. Bald liegt er vor uns, an seinem südwestlichen Ufer verläuft ein gut erkennbarer Weg. Es ist recht windig hier oben, so suchen wir uns einen einigermaßen geschützten Platz hinter einem niedrigen Hügel, ein wenig oberhalb des Sees. Die Zelte stehen nach kurzer Zeit, zwischen beiden spannen wir als Windschutz eine große Zeltplane, die wir glücklicherweise doch noch mitgenommen haben. Fast wäre sie unseren Bemühungen, Gewicht einzusparen, zum Opfer gefallen. Die Plane wird uns noch oft gute Dienste als Schutz unseres Koch- und Essplatzes vor Regen und Wind leisten.

Camp am Skorarvatn

Wir kochen einen Kaffee und machen uns dann an den Aufstieg zum Drangajökull. Gegen halb sechs Uhr abends brechen wir mit leichtem Rucksack auf. Es läuft sich gleich viel entspannter. In unserer ursprünglichen Planung war ein Ausflug zum Gletscher nur für den Fall vorgesehen, dass wir am Ende unserer Tour noch Zeit haben. Nun, da wir die Richtung unseres Treks umgekehrt haben, liegt der Gletscher am Anfang des Weges. Da er nicht unser eigentliches Ziel ist, beabsichtigen wir nicht, bis zu seinem Gipfel, der Jökulbunga auf 925 Metern, vorzudringen. Einen extra Tag für den Gletscher wollen wir nicht opfern, da wir nicht wissen, was uns das Wetter in den nächsten zehn Tagen bescheren wird. So beschließen wir, so weit zu gehen, wie es uns vernünftig erscheint.

Anfangs führt unser wegloser Aufstieg über grüne Matten, mit Gras bewachsene Geröllfelder und Schneefelder. Und dann lernen wir sie kennen, diese tückischen Stellen: scheinbar feste Erde, mit kleinen und größeren Steinen durchsetzt. Wie eine grober, unbefestigter Feldweg. In den heimischen Bergen würde man bedenkenlos darüber hinweggehen. Hier versinkt man oft urplötzlich bis zum Knöchel in weichem, zähem Morast. Selbst größere Steine, auf die man tritt, versinken gleich mit. Offenbar wurden diese Stellen erst kürzlich vom Schnee freigegeben und sind nur oberflächlich abgetrocknet. Unter der Oberfläche sind sie aber triefnass. Noch des öfteren werden wir in diese Fallen tappen und unter Fluchen versuchen, die Schuhe wieder einigermaßen sauber zu bekommen.

Feuchtwiesen unterhalb des Drangajökull

Wir gehen durch idyllische weiche Wiesen, die von unzähligen kleinen Bächen, Nebenarmen des großen Gletscherflusses durchsetzt sind. Ein Regenpfeifer versucht, uns mit linkischen Bewegungen von seinem Nest wegzulocken. Das kristallklare Wasser aus den Bächen schmeckt köstlich. Bald sind wir am Rand des Drangajökull angelangt. Steil zieht ein Schneefeld nach oben. Es ist schon etwas aufgeweichter Firnschnee, in dem sich gut nach oben steigen lässt. Die Grödeln hatten wir zwar sicherheitshalber mitgenommen, wir benötigen sie aber nicht. Von Spalten ist keine Spur zu entdecken.

Der steile Aufstieg treibt uns den Schweiß aus allen Poren. Je höher wir steigen, desto mehr öffnet sich der Blick. Langsam legt sich der Hang zurück. Und dann ist es wieder wie immer in den Bergen: man sieht den vermeintlichen Gipfel vor sich liegen, doch noch bevor man ihn erreicht hat, öffnen sich neue Aus- und Einsichten, das Spiel beginnt von vorn. Wir beschließen, bis etwa acht Uhr weiterzugehen und dann umzukehren. Bis zum Gipfel des Gletschers sind es hin und zurück bestimmt noch vier bis fünf Stunden, dann wären wir erst am frühen Morgen wieder bei unseren Zelten. Fehlendes Licht wäre nicht das Problem, aber schließlich wollen wir morgen einigermaßen früh aus den Federn.

Gegen acht Uhr sind wir auf etwa 650 Metern Höhe, noch knapp 300 Höhenmeter bis zum Gipfel. Wir machen Rast und genießen die fantastische Rundumsicht, die nur in Richtung des weiteren Aufstiegs versperrt ist. Wir sind allein auf dem Gletscher. Die absolute Stille wird nur durch das Klicken unserer Kameras gestört. In einige der unter uns liegenden Fjorde ist bereits wieder dünner, zäher Nebel gekrochen. In nördlicher Richtung, hinter scheinbar unzähligen Bergen, ragt eine markante Spitze empor. Das muss das Horn sein, das noch ferne Ziel unserer Reise. Im Moment bewegt uns nur die Vorstellung, die schweren Rucksäcke bis dorthin schleppen zu müssen. Aber wir selbst haben diese Art des Reisens gewählt und wollen mit niemandem tauschen. Kein Luxushotel, und hätte es noch so viele Sterne, könnte uns das bieten.

Grandiose Landschaft

Die grandiose, fast unberührte, urweltlich anmutende Landschaft lässt uns schweigen. Das ist einer jener Momente, von denen Reinhard Karl in seinem Kultbuch Yosemite – Klettern im senkrechten Paradies schrieb:

Während langsam die Sonne am Horizont verschwindet und der Grenzbereich zwischen Tag und Nacht für wenige Momente alles in ein irreguläres Licht taucht, beginnen mir langsam die Tränen zu laufen. Ich weiß, das war soeben ein Höhepunkt im Bergsteigen, vielleicht der emotionale Endpunkt, mehr ist nicht drin, das kommt nie wieder! Mein Verstand sagt mir: “Heb Dir das gut auf in Deinem Gedächtnis, leg es in Deine geistige Glasvitrine, das ist reines Gold”. Und ich fühle mich in diesem Augenblick unheimlich reich.

Zur Erinnerung: Reinhard Karl war in den siebziger Jahren einer der besten Allround-Bergsteiger der Welt. Er stand als erster Deutscher auf dem Gipfel des Mount Everest und war ein begnadeter Kletterer. Entgegen dem seinerzeit üblichen Eroberungsalpinismus vertrat er, geprägt durch viele Aufenthalte im kalifornischen Yosemite, beim Klettern die Philosophie des “By fair means”. Dem Berg eine Chance geben, nur das zum Klettern verwenden, was der Fels an natürlichen Möglichkeiten bietet. Haken nur zur Sicherung benutzen, keine Spuren hinterlassen. Was heute eine Selbstverständlichkeit ist, war damals Neuland. Eines der wenigen Beispiele für einen positiven Trend, der aus Amerika nach Europa importiert wurde.

Nebenbei bemerkt: es war eigentlich nur ein Reimport, denn die Amerikaner, die diesen neuen Trend kreierten, waren ihrerseits stark von Fritz Wiessner beeinflusst, einem in die USA emigrierten Sachsen. Und im Elbsandsteingebirge hat man die Philosophie des Freikletterns schon von Anbeginn an vertreten.

Karl war einer der ersten, die den neuen Trend nach Europa brachten. Im Jahre 1977 eröffnete er zusammen mit Helmut Kiene die berühmt-berüchtigten Pumprisse am Fleischbankpfeiler im Wilden Kaiser. Damals wie heute eine anspruchsvolle Kletterei. Als erste Tour in den Alpen überhaupt stuften die beiden Erstbegeher sie in den siebten Schwierigkeitsgrad ein, etwas, was bis dahin keiner gewagt hatte. Es war wie ein Befreiungsschlag, fortan purzelten die “Siebener” wie überreife Pflaumen von einem Baum.

Reinhard Karl prägte mit seinen Leistungen und seinen Büchern eine ganze Generation von Kletterern. Seine authentischen, emotionalen Berichte setzten sich deutlich von den heroischen Schilderungen der klassischen Alpinliteratur ab, und seine Schwarzweißfotos zählen für mich zu den besten, die fotografierende Alpinisten hervorgebracht haben. Leider viel zu früh, im Mai 1982, kam Reinhard Karl in einer Eislawine am Cho Oyu im Himalaja ums Leben.

Wir machen uns langsam an den Abstieg. Die steilen Schneehänge geht es nun wie im Flug abwärts. Unsere Aufstiegsspuren sind noch gut zu erkennen. Langsam zieht auch in unserem Tal Nebel auf. Auf dem Rückweg über die Geröllfelder verrät ein gelegentlicher Blick auf das GPS, dass wir uns von unserem Aufstiegsweg entfernen, obwohl wir geglaubt hatten, uns diesen gut eingeprägt zu haben. Als wir im Tal ankommen, lernen wir die Vorteile des GPS zu schätzen. Selbst ohne Nebel wäre es in dem unübersichtlichen Gelände nicht einfach gewesen, unsere den Farben der Landschaft angepassten Zelte wiederzufinden. Ohne größeres Suchen sind wir bald an unserem Camp. Es ist zehn Uhr.

Sofort machen wir uns ans Kochen, denn wir sind ziemlich hungrig. Das Abendessen ist auf unserer Tour immer eines der schönsten Rituale. Unser Ernährungsplan sieht in etwa folgendermaßen aus:

Zum Frühstück etwa 100 Gramm Müsli, mit etwas Trockenmilchpulver und heißem Wasser zu einem mehr oder weniger (eher weniger) schmackhaften Brei verrührt. Wir sind alle keine eingefleischten “Kerndlfresser”, und so ist das Frühstück mehr ein Muss, denn ein Genuss. Das Beste ist der die Lebensgeister weckende Kaffee.

Tagsüber haben wir jeder ein, zwei Müsli- oder Früchteriegel und ein paar Stücke Traubenzucker einstecken, die wir nach Bedarf zu uns nehmen. Bei dem anstrengenden Gehen entwickelt man sowieso kein großes Hungergefühl, zumindest mir geht es so.

Das Beste ist das Abendessen. Für vier Leute gibt es drei Beutel einer dicken Suppe: Erbsen-, Linsen-, Kartoffelsuppe. Gelegentlich wird die Suppe durch ein paar Kurznudeln, etwas gebratenen Tiroler Speck oder ein Würstchen aufgewertet. Gut abgewürzt sind diese Suppen ein Genuss. Danach gibt es einen heißen Tee, verfeinert mit einem Schuss Stroh-Rum, den die Flughafenkontrolle glücklicherweise nicht entdeckt hat. Zum krönenden Abschluss nach einem guten Essen dann noch einen halben Zigarillo, und die Welt ist in Ordnung.

Wir hatten bei der Planung der Tour auch daran gedacht, Expeditionsnahrung mitzunehmen. Abgesehen davon, dass sie unverhältnismäßig teuer ist, bietet sie sicher keinen höheren Nährwert als unsere Suppen, und schmecken wird sie wahrscheinlich auch nicht so, wie die Hersteller es versprechen. Uns war klar, dass wir bei den begrenzten Mengen an Essen, die wir mit uns führen können, und dem täglichen hohen Kalorienverbrauch eine negative Energiebilanz verbuchen würden. Aber außer Ludwig trugen wir alle ein paar überflüssige Pfunde mit uns herum, die wir hofften, auf diese Art und Weise loszuwerden.

Als wir mit dem Abendessen fertig sind, ist es fast Mitternacht. Der Nebel lichtet sich stellenweise und gibt den Blick auf die Mitternachtssonne frei, ein fast gespenstisches Bild. Der Himmel verspricht für den morgigen Tag gutes Wetter.

Die Mitternachtssonne verbreitet ein gespenstisches Licht 

Die Touren bei komoot:
2009-06-27-1: Hornstrandir, Hrafnsfjörður – Skorarvatn
2009-06-27-2: Hornstrandir, Skorarvatn – Drangajökull und zurück


Skorarvatn – Bolungarvík

Sonntag, 28.Juni

Als wir morgens gegen halb elf unser Camp verlassen, hängen noch Nebelfetzen über dem Tal, aber die Sonne vertreibt sie schnell. Am Ostufer des Skorarvatn überqueren wir ein großes Schneefeld, direkt am Ufer schimmert bläuliches Eis. Das Tal hinter dem See fällt sanft ab bis zum Furufjörður, den wir in der Ferne schon liegen sehen. Wir laufen über saftige Wiesen mit unzähligen Wildblumen, immer wieder müssen wir sumpfige Stellen weiträumig umgehen. Kurz vor der Küste furten wir unseren ersten Fluss, der kurz unterhalb des Skorarvatn entspringt, sich mit weiteren kleinen Flüssen vereinigt und in den Furufjörður mündet. Die Furt ist weder besonders breit noch tief, so dass wir ohne Probleme hinüberkommen. Das einzig Lästige an der Sache ist, dass man die Bergschuhe gegen die Watschuhe tauschen muss, und wenn man mehrere Flüsse am Tag zu furten hat, kostet das Zeit.

Am Furufjörður machen wir Rast und werfen einen Blick auf die Karte. Der Weiterweg in Richtung Bolungarvík führt direkt am Strand entlang und ist als gepunktete Linie dargestellt. Der Legende entnehmen wir, dass diese Wegstrecke nur bei Ebbe begehbar ist. Eine Gezeitentafel hatten wir vorsichtshalber mitgenommen. Leider steht die Flut kurz bevor, so dass wir mehrere Stunden warten müssen. Da prächtiges Wetter herrscht, es steht nicht eine Wolke am Himmel, soll uns das Warten nicht schwerfallen.

Wir nehmen ein Bad im nahegelegenen Fluss, um uns den Schweiß der vergangenen zwei Tage von der Haut zu waschen. Lange halten wir es in dem eiskalten Wasser nicht aus.

Einige hundert Meter von uns entfernt ist ein Gehöft zu erkennen, und da wir genügend Zeit haben, wandere ich hinüber. Zunächst komme ich an einem kleinen Friedhof vorbei, vielleicht zehn, fünfzehn schlichte Holzkreuze stehen hier. Die Gräber sind von Wildblumen und Engelwurz überwuchert. Die jüngste Inschrift auf einem der Holzkreuze stammt vom Anfang der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Hornstrandir war einmal vergleichsweise dicht besiedelt, aber als in den 1950er Jahren der Hering ausblieb, brach damit die Lebensgrundlage der vom Fischfang lebenden Menschen weg, und die meisten wanderten ab.

Altes Holzkirchlein im Furufjörður

Wenige Meter weiter befindet sich das renovierte Gehöft. Es ist sogar mit einem Solarpaneel ausgestattet. Türen und Fenster sind verschlossen. Das Haus hat eine umlaufende Veranda, von der aus man einen schönen Blick über die ganze Bucht hat. Offenbar dient es als Sommerhaus, aber es scheint schon längere Zeit nicht mehr benutzt worden zu sein. Der Zugang zum Haus ist mit halbmannshoher Engelwurz überwachsen. Hinter dem Gehöft sind unter dichter Vegetation die Reste eines alten Traktors zu erkennen.

Ich gehe wieder zurück zu den anderen, die in der angenehm warmen Sonne dösen. Wir nehmen nochmals einen Blick in die Gezeitentafel. Abhängig von den konkreten Bedingungen könne man bestimmte Wege auch ein, zwei Stunden vor oder nach der Ebbe begehen. Wir beschließen weiterzuziehen und wenn nötig vor Ort auf günstigere Bedingungen zu warten. Nach einer Viertelstunde kommen wir an der Nothütte vorbei, die es laut Karte in diesem Fjord geben sollte.

Schutzhütte im Furufjörður

Der Weiterweg geht stellenweise direkt am Strand entlang. Längere Abschnitte führen über kleinere und größere, vom Wasser rundgeschliffene Steine. Mit dem schweren Rucksack ist es ein mühsames Gehen. Gelegentlich müssen wir uns durch schmale Lücken zwischen zwei Felsen hindurchmanövrieren. Als wir das Ende dieses beschwerlichen Wegabschnitts erreichen, sind wir alle erleichtert. Und was die Ebbe betrifft: man hätte die Strecke vermutlich auch bei Flut gehen können, einige Stellen hätten vielleicht umklettert, andere mit Watschuhen begangen  werden müssen. So haben wir ein paar Stunden umsonst gewartet, aber da es ein schöner Platz mit perfektem Wetter war, sind wir nicht böse darum.

Inzwischen ist die Sonne verschwunden, der Himmel ist bedeckt. Es sieht aus, als würde das Wetter umschlagen. Der Weg führt nun wieder durch saftige Wiesen. Nach einem Anstieg auf zwanzig, dreißig Meter über den Meeresspiegel steht plötzlich der Drangar vor uns, eine kühne Felsnadel, die sich etwa 30 Meter vor der Küstenlinie aus dem Meer erhebt. Eine Raubmöwe fliegt mit lautem Geschrei einen Scheinangriff gegen uns und kehrt dann zu ihrem Platz auf der Spitze des Drangar zurück. Das Spiel wiederholt sich mehrmals.

Der Drangar

Bald kommt ein einzelnes Holzhaus unweit des Strandes in Sicht. Wir hatten zwar bei Bolungarvík ein “Guest House” in der Karte gesehen, dies aber nicht für bare Münze genommen. Unser Weg führt direkt über die Veranda des kleinen Hauses. Als wir vorbeigehen, kommt eine junge Frau heraus. Mit ihrer kleinen Tochter und ihrer Mutter lebe sie im Sommer hier, erzählt sie. Mit der jüngeren Frau ist eine Verständigung auf englisch problemlos, die ältere spricht nur isländisch. Und das Guest House gibt es wirklich: vielleicht 800 Meter weiter sieht man es stehen. Sie seien mit den Vorbereitungen zur Inbetriebnahme gerade noch rechtzeitig fertiggeworden. Wir seien die ersten Wanderer in diesem Jahr, die vorbeikämen.

Vor dem zum Haus gehörenden Schuppen liegt ein kleines Motorboot, die einzige Möglichkeit hierher zu gelangen, außer zu Fuß natürlich. Alles sieht noch etwas unfertig, improvisiert aus. Aber Gäste, die Wert auf Luxus legen, sind hier ohnehin nicht zu erwarten.

Plötzlich schießt ein hundeähnliches Tier mit einem zerzausten, schwarzbraunen Fell aus der Tür des Hauses und verschwindet in Richtung Strand. Hunde sollte es auf Hornstrandir doch gar nicht geben! “It looks like a fox!?”, sage ich zu der jungen Frau. “It is a fox!”, antwortet sie. Das also ist sie, unsere erste Begegnung mit einem Polarfuchs. So hatten wir uns das allerdings nicht vorgestellt. Während der Planung unserer Reise hatte ich aber gelesen, dass der Polarfuchs im allgemeinen wenig Scheu vor dem Menschen zeigt. Zum einen ist ganz Hornstrandir Naturschutzgebiet, und der Fuchs darf selbstredend nicht bejagt werden. Zum anderen weiß er natürlich ganz genau, dass es in der Nähe des Menschen immer etwas zu holen gibt.

Polarfuchs

Auch für uns gibt es etwas zu holen: die junge Frau hat nämlich Bier auf Lager, und das kommt uns allen sehr recht. Vorher aber wollen wir unsere Zelte aufbauen. Wir gehen hinüber zum Gästehaus. Daneben befindet sich ein kleiner Campground und ein Toilettenhäuschen. Die Zelte stehen nach kurzer Zeit, zum Kochen benutzen wir die zum Gästehaus gehörende kleine Küche.

Nach dem Abendessen laufen wir noch einmal hinüber zu unserer Gastgeberin, um unser Bier in Empfang zu nehmen. Bezahlen könnten wir morgen, meint sie. Auf dem Rückweg zu unseren Zelten taucht plötzlich der Fuchs von vorhin wieder auf. Er hat am Strand einen toten Fisch gefunden, der fast genauso groß ist, wie er selbst. Er lässt uns bis auf fünf oder sechs Meter an sich heran, eine ungewöhnlich kurze Fluchtdistanz für ein Wildtier. Irgendwie fühlt er sich dann doch durch unsere Anwesenheit gestört und verschwindet in Richtung Strand. Seinen Fisch wird er sich später holen.

Als wir zum Campground zurückkommen, steht da ein weiteres Zelt. Es beherbergt zwei junge Frauen, die einzigen Wanderer, die wir in den ersten vier Tagen treffen werden. Wir schauen uns das Gästehaus an. Neben der kleinen Küche gibt es noch Schlafräume, die etwa zwanzig Wanderern Platz bieten. Bei wirklich schlechtem Wetter sicher eine angenehme Alternative zum Zelt.

Wohlverdientes Bier

Wir genießen das Bier und verschwinden dann recht bald in unseren Schlafsäcken. Irgendwie fühle ich mich heute ziemlich geschafft. Wahrscheinlich habe ich von zu Hause einen Infekt mitgebracht. Ausgerechnet jetzt.

Die Tour bei komoot:
2009-06-28: Hornstrandir, Skorarvatn – Guesthouse Bolungarvík


Bolungarvík – Smiðjuvík

Montag, 29.Juni

Am Morgen hängen tiefe Wolken über den Bergen, aber es regnet nicht. Noch nicht. Nach dem Frühstück gehen wir hinüber zum Wohnhaus, um unsere Schulden für die Benutzung des Campgrounds und das Bier zu begleichen. Dann machen wir uns auf den Weg, wir wollen heute bis in die Bucht Smiðjuvík kommen. Dazu müssen wir zwei Pässe überqueren, den Göngumannaskarð, etwa 370 Meter hoch und den etwa 100 Meter niedrigeren Smiðjuvíkurháls. Zwischen beiden Pässen geht es wieder auf Meereshöhe hinunter. Die Höhenunterschiede klingen lächerlich im Vergleich zu denen, die man gewöhnlich in den Alpen zu überwinden hat. Aber mit schwerem Rucksack und bei oft weglosem Gelände relativiert sich alles.

Flussfurt direkt an der Mündung ins Meer

Mir geht es heute nicht besonders gut, der Infekt kommt langsam zum Ausbruch. Mühsam quäle ich mich den Anstieg zum ersten Pass hinauf und bremse den Rest der Gruppe aus. Oben ist es ziemlich kühl, außerdem fängt es an, leicht zu regnen. Der Abstieg vom Pass geht wieder über Stock und Stein. Unten im Talgrund ist zu erkennen, dass wir den Fluss Barðsvíkurós noch werden furten müssen.

Blick zurück auf Bolungarvík

Der zweite Pass ist etwas niedriger und der Anstieg weniger steil. Immer wieder regnet es leicht. Von der Passhöhe sieht man unser Tagesziel, die Bucht Smiðjuvík, schon liegen. Wir stellen unsere Zelte windgeschützt hinter einem kleinen Hügel auf, der die Reste eines alten, schon völlig verfallenen Gehöfts birgt. Wieder einmal erweist sich unsere Plane als sehr segensreich. Wir spannen sie zwischen den Zelten und haben so einen geräumigen, windgeschützten und vor allem trockenen Platz zum Kochen und Essen. Inzwischen regnet es nämlich stärker.

Wir sind gerade mit dem Essen und unserem Tee fertig, als wir zwei Wanderer vom Pass herunterkommen sehen. Es sind die zwei jungen Frauen vom Vortag. Zum Schutz vor dem Regen, den sie unbeeindruckt hinnehmen, haben sie Ponchos übergestreift. Wir kommen ins Gespräch. Sie sind aus Reykjavík und wollen die gleiche Strecke gehen wie wir. Viele Leute seien auf diesem Wegstück nicht unterwegs, meinen sie. Das ist auch unser Eindruck. Leider können wir den beiden nicht einmal einen heißen Tee anbieten, wir könnten zwar einen kochen, aber sie wollen noch weitergehen. Hell ist es schließlich die ganze Nacht, und der Regen scheint die zwei wirklich nicht zu stören. Wir wünschen ihnen viel Glück für ihren Weiterweg, und bald sind sie unseren Blicken entschwunden.

Vor dem Schlafengehen nehme ich noch ein Antibiotikum gegen den Infekt. Ich hoffe, der nächste Tag wird besser. Aber zunächst einmal trommelt der Regen heftig gegen die Zeltwand. Da ist es beruhigend, in einem warmen, trockenen Schlafsack zu liegen.

Die Tour bei komoot:
2009-06-29: Hornstrandir, Guesthouse Bolungarvík – Smiðjuvík


Smiðjuvík – Látravík

Dienstag, 30.Juni

In der Nacht habe ich offenbar leichtes Fieber, ich träume, dass ich mit dem Hubschrauber ausgeflogen werde. Am Morgen regnet es noch immer, bei diesem Wetter weiterzugehen, wäre nicht besonders sinnvoll. So legen wir uns nach dem Frühstück wieder in unsere warmen Schlafsäcke. Wir beschließen weiterzugehen, wenn der Regen nachlässt. Mir ist es ganz recht, obwohl das unseren Weiterweg natürlich verzögert. Glücklicherweise haben wir gegen Ende unserer Tour zweimal die Möglichkeit abzukürzen.

Gegen Mittag lässt der Regen nach, schließlich hört er ganz auf. Wir machen uns fertig zum Aufbruch, hoffen, dass es trocken bleibt. Heute haben wir eine längere Etappe vor uns, wenn möglich, wollen wir es bis zum Leuchtturm von Látravík schaffen. Gegen halb zwei brechen wir auf.

Smiðjuvík: ein Streifen grünen Mooses zieht sich bis hinunter zum Meer

Zunächst geht es hinauf zum Smiðjuvíkurbjarg. Rechts unseres Weges zieht ein schmaler Streifen leuchtend grünen Moses bis hinunter zum Wasser. Es sieht unwirklich und faszinierend zugleich aus. Leicht ansteigend führt der Weg zum Drífandisbjarg hinauf, immer knapp an dem senkrechten Abbruch entlang. Am Horizont ist schon deutlich Hornbjarg zu erkennen, das Ziel unserer Wanderung.

In den Steilklippen nisten unzählige Wasservögel. Jetzt wäre mein 400er Teleobjektiv sehr hilfreich. Das aber liegt zu Hause im Schrank, ist meinen Bemühungen, Gewicht eizusparen, zum Opfer gefallen. Ärgerlich, aber nicht zu ändern.

Plötzlich taucht ein Polarfuchs vor uns auf, dann noch einer. Schließlich sehen wir eine ganze Familie mit vier oder fünf Jungfüchsen. Sie sitzen vor dem Eingang ihres Baus, stets zur Flucht bereit, aber neugierig, was die einsamen Wanderer hier wohl zu suchen haben. Bis auf vier oder fünf Meter können wir uns ihnen vorsichtig nähern. Bei der geringsten Bewegung unsererseits verschwinden die Jungen flink in ihrem Bau, um kurz darauf wieder neugierig ihre Köpfe herauszustecken. Eine ganze Weile beobachten wir das lustige Treiben. Ein etwas größerer Welpe abseits von den anderen ist mit einem Vogelei beschäftigt, dessen Schale er versucht zu knacken. Später finden wir den Schnabel eines Papageitauchers, der den Füchsen offenbar zum Opfer gefallen ist.

Als wir oben am höchsten Punkt ankommen, beginnt es wieder leicht zu regnen. Wir streifen unsere Ponchos über, sie halten zwar von außen trocken, dafür wird man von innen her nass. Zum Glück hat das Wetter ein Einsehen mit uns, der Regen währt nur kurz. Vor uns liegt ein weites Tal, das Drífandisdalur. Im Talgrund stürzen die Wassermassen des Drífandi über die Abbruchkante ins Meer und formen einen imposanten, etwa 40 Meter hohen Wasserfall. Auf dem schmalen Küstensaum unterhalb des Wasserfalls liegen Unmengen Treibholzes. Irgendwo habe ich gelesen, dass es mit einer Meeresströmung aus Sibirien an die Küste Hornstrandirs gelangt.

Wasserfall des Drífandi

Den knietiefen und etwa 15 Meter breiten Drífandi müssen wir furten. Das bedeutet wieder, die Schuhe zu wechseln und erhöhte Aufmerksamkeit walten zu lassen. Mit dem Rucksack und vor allem der Fotoausrüstung in den reißenden Fluss zu fallen, wäre fatal.

Der Drífandi muss gefurtet werden

Hinter dem Fluss steigt das Gelände wieder leicht an, um dann erneut ins nächste Tal, das Hrollaugsvíkurdalur abzufallen. Diese Tagesetappe zählt wegen der vielen fantastischen Ausblicke in weite Täler und auf imposante Wasserfälle zu den schönsten der ganzen Wanderung.

Nach dem Tal geht es noch einmal bergauf zum Axarbjarg. Oben am Pass liegt rechts von uns der Öxi. Und von hier aus eröffnet sich uns der erste Blick hinunter nach Látravík. Nebelfetzen hängen im Talgrund. Und da steht er, der Leuchttum von Látravík, dessenthalben ich eigentlich in diesem verlorenen Winkel Islands bin. Neben dem gelben Turm mit rotem Dach steht ein weißes Haus, das Haus des Leuchtturmwärters. Ich weiß natürlich, dass es heute nicht mehr so einsam ist, wie es der Reiseführer auf meiner ersten Islandreise versprach. Im Leuchtturmhaus werden einfache Schlafsackunterkünfte angeboten, die meisten Leute werden mit dem Boot hierher gebracht und bleiben drei oder vier Tage, bevor im Wechsel die nächsten kommen.

Der Leuchtturm von Látravík

Steil geht es hinunter nach Látravík, gegen halb neun kommen wir am Leuchtturm an. Sieben Stunden Wanderung liegen hinter uns und haben ihre Spuren hinterlassen. Um so dankbarer nehmen wir die Gelegenheit wahr, ein erfrischendes Bier trinken zu können.

Auf einer großen Wiese vor dem Leuchtturm bauen wir unsere Zelte auf. Das Abendessen ist, wie an jedem Tag, ein Höhepunkt. Sitzen, essen, erzählen, rauchen. Danach gehen wir in das Haus am Leuchtturm, um uns ein zweites Bier zu genehmigen. Hinter Látravík werden wir bis zum Ende unserer Wanderung dafür keine Gelegenheit mehr haben. Im Vorraum stehen Bergschuhe und Rucksäcke der etwa zehn Gäste, die momentan anwesend sind. Ein Heißluftventilator hilft, die klammen Sachen zu trocknen. Hinter dem Haus haben wir gesehen, dass eine kleine Wasserturbine den dafür nötigen Strom liefert. Der Gastraum ist winzig, ein paar Leute sitzen herum und spielen Karten.

Wir kommen mit dem Leuchtturmwärter ins Gespräch. Er ist schätzungsweise Mitte Vierzig und seit ein paar Jahren während der zwei, drei Sommermonate hier. Der Leuchtturm sei noch in Betrieb, aber inzwischen automatisiert. Nur ab und zu müsse er nach dem Rechten sehen, die Technik sei mittlerweile sehr zuverlässig.

Wir holen uns bei ihm noch ein paar Informationen für den nächsten Tag, wir wollen natürlich, diesmal mit leichtem Gepäck, hinauf zum Horn. Ob man hier auch Papageitaucher finden könne, wollen wir wissen. Er habe hier noch keine gesehen, und von einem Vogelkundler wisse er, dass sie nur an ganz wenigen, schwer zugänglichen Stellen zu finden seien. Drüben in Látrabjarg könne man unzählige von ihnen beobachten. Das bestätigt unsere bisherigen Erfahrungen, offenbar wissen hier nur die Polarfüchse um die Aufenthaltsorte der Papageitaucher.

Irgendwann kommen wir auch auf die Finanzkrise zu sprechen. Eigentlich absurd, hier im letzten Winkel der bewohnten Welt. Die Isländer habe es besonders hart getroffen, erzählt der Leuchttumwärter. Haus weg, Auto weg, für viele stehe ihre Existenz auf dem Spiel. Man merkt ihm seinen (berechtigten) Zorn an. Wenn sie die Schuldigen zu fassen bekämen, sie würden sie alle aufhängen. Auf Island gebe es dafür doch gar nicht genügend Bäume, werfe ich mit einem Augenzwinkern ein. Es gebe aber viele Klippen, kontert er geschickt.

Als wir zurück zu unseren Zelten gehen, liegt eine eigenartige Stimmung in der Bucht. Nebelfetzen verhüllen die Berge, ab und zu bricht die Mitternachtssonne durch die Wolken und zaubert ein zartes Licht über die wilde Landschaft. In der Richtung, aus der wir heute gekommen sind, liegt eine der sich weit ins Meer hinausschiebenden Steiklippen im Sonnenlicht, während die anderen bereits in tiefe Schatten getaucht sind.

Abendstimmung in Látravík

Die Tour bei komoot:
2009-06-30: Hornstrandir, Smiðjuvík – Hornbjargsviti


Hornbjarg

Mittwoch, 1.Juli

Heute wollen wir zum Horn. Gegen elf Uhr brechen wir auf. Am Himmel hängen schwere Wolken, es sieht nach Regen aus. Ich bin froh, dass ich heute keinen schweren Rucksack schleppen muss. Das Antibiotikum gegen meine Erkältung hat zwar geholfen, aber wirklich gut geht es mir noch nicht.

Kurz hinter der Bucht Látravik ergießt sich ein malerischer Wasserfall ins Meer. Intensive Rot- und Grüntöne zieren das nasse Gestein. Unter dem Wasserfall haben sich große Mengen Treibholzes versammelt.

Wasserfall in Látravík

Der Weg führt uns vorbei am Dögunarfell über den Pass Almenningaskarð. Dort öffnet sich der Blick auf Hornbjarg und die Steilklippe Kálfatindar. Sie ist die höchste ihrer Art auf Island, 534 Meter fällt sie steil ins Meer hinab. Üppig mit Gras und Moos bewachsene Hänge steigen nach Westen hin an, zuerst sanft, später sehr steil, um dann abrupt in einer scharfen Abbruchkante zu enden, die aussieht, wie mit einem Messer geschnitten. In den Steilklippen tummeln sich unzählige Wasservögel: TordalkeTrottellummenKüstenseeschwalbenEismöwen. Nur Papageitaucher können wir nicht ausmachen, so wie der Leuchtturmwärter es prognostiziert hat.

Der weitere Wegverlauf ist unklar, so suchen wir uns diesen wieder einmal selbst. Die weit ins Meer hinausragenden Felszacken EilifstindurHólmurLambateigurRani lassen wir rechts liegen und halten auf den Kálfatindar zu. Über einen steilen Grashang arbeiten wir uns, zum Teil auf allen Vieren,  mühsam nach oben. Vorsichtig nähern wir uns der Abbruchkante und damit dem Gipfel des Kálfatindar. Hier ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten, denn man weiß nie, wie weit die Kante durch Wind, Wetter und Wasservögel unterhöhlt wurde. Bäuchlings schieben wir uns langsam an die Kante. Es bietet sich ein atemberaubender Tiefblick, über 500 Meter bis zur Wasseroberfläche. Tief unter uns kreisen mit lautem Geschrei zahllose Wasservögel auf ihrer Suche nach Futter.

Am Gipfel des Kálfatindar

In nördlicher Richtung ist das eigentliche Horn zu sehen. Es ist nicht so hoch wie der Kálfatindar, der Weg dorthin führt über einen breiten Rücken. Unter uns liegt der See  Miðdalsvatn, er dient den Wasservögeln als große Badewanne. Aus ebendiesem Grund hatte der Leuchtturmwärter davon abgeraten, von seinem Wasser zu trinken. Uns gegenüber, hinter der Bucht von Hornvík, liegt eine eindrucksvolle Bastion, die gewaltige Steilklippe des Hælavíkurbjarg.

Der Himmel ist noch immer dunkel und drohend, aber es scheint trocken zu bleiben. Nach einer kurzen Rast machen wir uns über einen grasigen, von Steinen durchsetzten Grat an den Abstieg. Wir haben beschlossen, nicht mehr bis zur letzten Spitze zu gehen, sondern in einem Bogen zurück nach Látravik. Als wir wieder am Pass Almenningaskarð ankommen, reißt die Wolkendecke sogar für kurze Zeit auf und gibt die Sonne frei. Sofort wirkt die Landschaft viel freundlicher.

Die Sonne bricht durch die Wolken

Gegen sechs Uhr sind wir zurück in Látravik bei unseren Zelten. Nach dem Abendbrot nutzen wir noch einmal die Gelegenheit zu einem kühlen Bier.

Abendstimmung in Látravík

Die Tour bei komoot:
2009-07-01: Hornstrandir, Rundtour Hornbjarg


Látravík – Hornvík

Donnerstag, 2.Juli

Am Morgen herrscht hektische Betriebsamkeit im und vorm Leuchtturmhaus. Rucksäcke werden nach draußen geschleppt, auf einen Holzkarren geladen und vertäut. Der Karren samt Rucksäcken wird auf einer Rutschbahn aus Holzbrettern, die neben der Treppe hinunter zum Strand führt, abgeseilt. Jetzt wissen wir auch, welchen Zweck diese eigentümliche Konstruktion erfüllt.

Hektische Betriebsamkeit

Wir verfolgen das Geschehen mit Interesse. Offenbar steht ein Wechsel der Gäste im Leuchtturmhaus bevor. Die alten gehen, neue kommen. Es dauert aber noch über eine Stunde, bevor am Horizont ein Motorboot auftaucht. Und eine weitere Stunde vergeht, bis die Neuankömmlinge samt Gepäck mit dem Schlauchboot an Land gebracht und die Abreisenden auf dem Motorboot verstaut sind. Dann kehrt langsam wieder Ruhe ein.

Auf der Wiese vor dem Leuchtturm sitzen ein Mann und eine Frau mittleren Alters und kosten von verschiedenen Kräutern, die dort wachsen. Ich bin sofort interessiert und gehe zu ihnen hinüber. Vielleicht kann man von ihnen lernen, was genießbar ist und was nicht. Wir haben schließlich noch ein paar Tage vor uns, und unsere Vorräte sind inzwischen auf ein überschaubares Maß geschrumpft …

Es sind Isländer aus Reykjavík. Als er erfährt, woher wir kommen, spricht er plötzlich in einwandfreiem Deutsch mit mir. Kirchenmusiker sei er, habe in Hamburg studiert und sieben Jahre dort gelebt. Daher sein gutes Deutsch.

Inzwischen haben sich AndiMicha und Ludwig zu uns gesellt, und wir erfahren einiges über die Genießbarkeit der isländischen Flora. Wir lernen nicht nur, welche Pflanzen man essen kann, sondern auch, welche Teile am besten schmecken.

Crashkurs über die Genießbarkeit der isländischen Flora

Der Kirchenmusiker erzählt, dass er vor ein paar Monaten bei einem Freund in der Bach-Stadt Eisenach zu Besuch gewesen sei. Da wird Micha hellhörig, schließlich lebt er in Eisenach. Und nach kurzem hin und her erfahren wir einmal mehr, wie klein die Welt sein kann. Es ist eine Situation, wie sie komischer nicht sein könnte. Da sitzen ein paar Menschen aus verschiedenen Ländern auf einer Wiese in einem der entlegensten Winkel Islands, mampfen Kräuter in sich hinein und stellen fest, dass sie gemeinsame Bekannte haben.

Nach unserem Exkurs in die Flora Islands packen wir unsere Siebensachen. Wir müssen weiter. Zwar ist der Weg hinüber bis nach Hornvík nicht weit, aber es ist auch schon fast Mittag. Wir verabschieden uns vom Leuchtturmwärter und seiner Frau und begeben uns auf die Weiterreise.

Der Pass Kýrskarð, über den wir heute müssen, ist mit seinen etwa 300 Metern weder besonders hoch, noch der Anstieg sehr steil. Trotzdem stelle ich fest, dass heute der erste Tag ist, an dem ich mich wieder besser fühle. Das Antibiotikum zeigt offensichtlich Wirkung.

Das Wetter ist heute recht freundlich, ein Mix aus Sonne und Wolken. Oben am Pass, den wir nach gut einer Stunde erreichen, treiben ein paar Nebelfetzen. Vor uns liegt die Bucht Hornvík, das Toblerone-Toilettenhäuschen ist schon zu sehen. Hornvík wird beherrscht vom Hafnaros, einer Lagune, die durch den Hafnarsandur, einen mächtigen Sander, vom Meer abgeriegelt wird. Lediglich zwei schmale Durchlässe am östlichen und westlichen Ende des Sanders, Drifandi und Höfn, gewähren Zugang zum offenen Meer. Der Hafnaros wird von vier oder fünf kleineren, aus den Bergen kommenden Flüssen gespeist, so dass eine beständige, wenn auch eher gemächliche Strömung herrscht. Durch die weite Wasserfläche des Hafnaros müssen wir heute noch hindurch.

Hornvík mit Hafnaros

Beim Abstieg vom Pass queren wir einige Schneefelder, weiter unten treffen wir wieder auf einen Polarfuchs. Man hat fast den Eindruck, als spiele er mit uns. Bis auf eine gewisse Distanz lässt er uns an sich herankommen, um dann plötzlich ein paar Meter weiter weg erneut Stellung zu beziehen.

Als wir unten kurz vor der Lagune rasten, hören wir plötzlich Schritte von oben. Ein einzelner Wanderer nimmt den gleichen Weg wie wir vom Pass herunter. Als er näherkommt erkennen wir, dass es René ist. Sein Zelt stehe in der Bucht von Hornvík, heute sei er ohne Gepäck oben am Horn gewesen, berichtet er.

Wir sind am diesseitigen Ufer des Hafnaros angelangt. Laut Karte müsste der Hafnaros drei Furten haben, zwei von jeweils etwa 250 Metern Breite, die dritte etwas schmaler. Schon vom Pass aus hatten wir aber gesehen, dass es sich nur um eine breite Furt handelt, die beiden anderen sind offenbar momentan versandet.

Gemeinsam gehen wir die bisher breiteste Furt auf unserer Wanderung an, ich schätze sie auf etwa 200 bis 250 Meter. Sie sei allerdings nicht so tief, wie es den Anschein habe, beruhigt uns René. Die langen Hosen müssen wir trotzdem ablegen, denn bis fast zum Schritt reicht das Wasser doch.

Nur nicht stolpern

Der Flussboden ist diesmal nicht von grobem Gestein, sondern feinem schwarzem Lavasand bedeckt. Bei etwa einem Drittel der Strecke durch den Fluss bleibe ich auf einmal mit dem rechten Fuß im zähen Schlick stecken. In diesem Moment fällt mir ein, dass ich irgendwann über die Gefahr des Auftretens von Treibsand, jenes gefährlichen Gemischs aus Sand und Wasser, im Hafnaros gelesen hatte. Schnell verdränge ich den Gedanken wieder. Bei dem Versuch, mich zu befreien, löst sich plötzlich die Trekkingsandale von meinem Fuß. In die Knie gehen, um nach dem Schuh zu angeln, kann ich wegen des schweren Rucksacks auf meinem Rücken nicht riskieren. Nach vorn bücken ist auch unmöglich, dann würde die Tasche mit der Spiegelreflexkamera unweigerlich absaufen. Also fische ich mit dem Fuß nach dem verlorenen Schuh, und es gelingt mir, ihn freizubekommen. Doch damit habe ich das nächste Problem: die Strömung nimmt den Schuh sofort mit. Glücklicherweise schwimmt er an der Wasseroberfläche, und Micha ist so geistesgegenwärtig, ihn vor dem endgültigen Abtreiben zu bewahren. Mit der Sandale in der Hand erreiche ich das andere Ufer. Es wäre zwar kein großer materieller Verlust gewesen, aber am Abend die schweren Bergschuhe gegen die leichten Sandalen tauschen zu können, ist schon ganz angenehm. Von ihrer Nützlichkeit beim Furten der Flüsse ganz zu schweigen.

Der restliche Weg bis hinüber zum Campground führt durch feinen, dunkelgrauen bis schwarzen Lavasand. Das sind sicher die Abschnitte, die laut Karte eigentlich unter Wasser hätten stehen müssen. Ab und zu finden sich einzelne Exemplare des Hahnenfußes, die mit ihrem intensiven Gelb einen interessanten Kontrast zum schwarzen Boden bilden.

Interessanter Kontrast: Hahnenfuß auf Lavasand

Unsere Zelte stehen nach kurzer Zeit, mit Hilfe dreier Baumstämme schaffen wir uns eine gemütliche Sitzgelegenheit. Es ist ein angenehm lauer Abend, gelegentlich bricht die Sonne durch die Wolken und taucht das gegenüberliegende Hornbjarg in ein freundliches Licht.

Heute ist Micha mit Kochen dran, und er zieht alle Register. Kartoffelpürée mit einer würzigen Zwiebelsoße, verfeinert mit Tiroler Schinkenspeck, den Ludwig beisteuert. So fürstlich haben wir lange nicht mehr gespeist. Die verführerischen Gerüche, die beim Kochen aufsteigen, locken auch bald einen Polarfuchs an. Neugierig schwarwenzelt er um unser Camp. Bei uns hat er diesmal kein Glück.

Verführerische Düfte steigen auf …
… und locken einen Polarfuchs an

Die Tour bei komoot:
2009-07-02: Hornstrandir, Látrabjarg – Hornvík


Hornvík – Hlöðuvík

Freitag, 3.Juli

Das Wetter scheint es auch heute gut mit uns zu meinen, hoffentlich strapazieren wir Petrus’ Geduld nicht zu sehr. Pünktlich zum Frühstück ist der Polarfuchs von gestern abend wieder da, doch erneut geht er leer aus. Abgesehen davon, dass unsere Essensvorräte schon arg geschrumpft sind, wäre es keine gute Idee, Wildtiere zu füttern. Sie müssen sich um ihren Lebensunterhalt schon selbst kümmern.

Unser Polarfuchs ist wieder da

Gegen 11 Uhr verlassen wir unseren schönen Platz in Hornvík, unser heutiges Ziel ist die benachbarte Bucht Hlöðuvík. Um dorthin zu gelangen, müssen wir zwei Pässe, zwischen denen sich eine Hochfläche befindet, überwinden.

Der Weg führt am Strand entlang bis zur westlichen Begrenzung der Bucht. Ein Felssporn, der sich ins Meer hinausschiebt, muss landeinwärts umgangen werden. Eine steile Geröllrinne ist mit einem dicken Hanfseil versichert, das wir wegen der schweren Rucksäcke dankbar in Anspruch nehmen.

Als wir wenig später zurückblicken, sehen wir ein paar farbige Punkte unterhalb einer Felswand direkt am Strand. Es sind Wanderer, die offenbar an der Stelle vom Weg abgekommen sind, an der auch wir unschlüssig ob des Weiterwegs waren. Aber sie haben ihren Irrtum anscheinend schon erkannt und sind am Umkehren.

Verlaufen …

Als nächstes muss ein aus den Bergen kommender Fluss gefurtet werden. Diesmal können wir zum Glück auf einen Schuhwechsel verzichten. Quer über dem Fluss hat sich eine Menge Treibguts angesammelt, Holzbretter und Wellblechteile, wohl die Überreste eines Hauses, das einer der Frühjahrsfluten zum Opfer gefallen ist. Mit etwas Vorsicht gelangen wir auf dieser “Brücke” trockenen Fußes auf die andere Seite des Flusses.

Hinter dem Fluss führt ein kaum erkennbarer Trampelpfad anfangs über saftig grüne Wiesen, später über mit Moos und Flechten bewachsene Matten hinauf zum Pass  Atlaskarð. Vor uns liegt eine weite Hochfläche voller Geröll- und Schneefelder. Unter dem Schnee gluckst das Wasser eines weit verzeigten Systems aus kleineren Rinnsalen und größeren Bächen. An den Rändern der in der Schneedecke befindlichen Löcher schimmert das Eis bläulich.

Die Hochfläche zieht sich bis hinüber zum nächsten Pass unterhalb des Skálarkambur. Dort angekommen bietet sich uns ein atemberaubender Tiefblick auf die Bucht Hlöðuvík. Hufeisenförmig umschließen um die 600 Meter hohe Berge die Bucht. Ein paar Holzhäuser (Buðir) wirken verloren in der weiten Landschaft.

Die Häuser wirken verloren in der weiten Landschaft

In steilen Serpentinen führt der Weg hinunter in die Bucht. Neben einer kleinen Nothütte stehen noch zwei Holzhäuser, offenbar private Sommerhäuser. Auf der Veranda  eines der Häuser liegen ein paar junge Leute auf Isomatten und genießen die warme Sonne. Wir errichten unser kleines Camp auf einer weiten Grasebene, ein paar hundert Meter von den Hütten entfernt. Das Wetter ist angenehm, am blauen Himmel stehen ein paar harmlose Wolken, und es weht ein mäßiger Wind.

Campground in der Bucht Hlöðuvík

Wir schlendern hinunter zum Wasser, und irgendjemand kommt auf die Idee, baden zu gehen. Lang hält es aber keiner in den Fluten der Grönlandsee aus. Eiskalt und voller Seetang sei das Wasser, berichten die anderen. Ich schenke mir mit Rücksicht auf den gerade überwundenen Infekt den Badegang.

Nach dem Abendessen kramt Ludwig seine Geheimreserven hervor, einen letzten Zigarillo. Er muss für vier Leute reichen, und um ihn bis zum letzten Zug auszunutzen, wird er mit Hilfe eines Leathermans geraucht.

Der letzte Zigarillo

Am Abend nimmt der Wind zu und treibt vom Meer her dunkle, bedrohlich aussehende Wolken vor sich her. Kein gutes Zeichen.

Vom Meer her zieht Schlechtwetter auf

Die Tour bei komoot:
2009-07-03: Hornstrandir, Hornvík – Hlöðuvík


Hlöðuvík – Fljótsvatn

Samstag, 4.Juli / Sonntag, 5.Juli

Heute ist es vorbei mit Petrus’ guter Laune. Schon während der Nacht hatte es des öfteren geregnet, und der Wind hat unsere Zelte kräftig durchgeschüttelt. Als ich das Zelt am Morgen öffne, hängen tiefe, vom Wind zerrissene Wolken in der Bucht. Bei diesem Wetter ist es am angenehmsten im Schlafsack, der Weiterweg muss warten.

Gegen zehn Uhr schälen wir uns aus den Schlafsäcken, langsam meldet sich der Hunger. Der böige Wind lässt unsere Plane, die wir zwischen den Zelten gespannt haben, laut knattern. René ist auch schon wach und gesellt sich für das Frühstück zu uns. Danach verkriechen wir uns wieder in die Zelte. Viel kann man bei dem unangenehm kalten Wind, der immer wieder Regenschauer vor sich hertreibt, sowieso nicht unternehmen.

Hlöðuvík: Frühstück bei Schlechtwetter

So schön es im trockenen und warmen Schlafsack auch sein mag, irgendwann kann man nicht mehr liegen. So ähnlich muss sich senile Bettflucht anfühlen. Ich schlendre hinüber zu der Schutzhütte, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Sie ist winzig, auf einer Seite eine Toilette, auf der anderen eine Waschgelegenheit. Als Schutz gegen wirklich schlechtes Wetter ist sie allenfalls für höchstens drei oder vier Leute geeignet. Stehend könnte man dort das gröbste Ungemach abwarten, keine sehr angenehme Vorstellung. Da wäre es wahrscheinlich besser, sein Zelt im Windschatten eines der Holzhäuser zu errichten.

Schlafen, Dösen, Lesen, Teetrinken – irgendwie schaffen wir es, den Tag zu überstehen. Nach Wetterbesserung sieht es noch nicht aus. Trotzdem wir heute nur auf der faulen Haut lagen, ist das Hungergefühl am Abend wieder da. Und während wir beim Essen sind, sieht es plötzlich so aus, als würden die ständigen Regenschauer nachlassen. Sogar die Sonne bricht ab und an durch ein Wolkenloch. Wir beschließen, noch ein wenig abzuwarten und weiterzuziehen, wenn Aussicht auf eine längere trockene Phase besteht. Der Wind ist zwar unangenehm, aber erträglich, solange es nicht regnet.

Hlöðuvík: die Sonne bricht durch ein Wolkenloch

Gegen halb neun Uhr abends ist es soweit. Wir haben unser Camp abgebrochen, alles in den Rucksäcken verstaut und sind bereit zum Aufbruch. René hat beschlossen, noch zu bleiben. Wir verabschieden uns, wahrscheinlich sehen wir uns in Hesteyri wieder.

Der Weg führt uns zunächst entlang des Strandes. Wegen des starken Windes ist das Meer ziemlich aufgewühlt, die Wellen zeigen weiße Schaumkämme. Ich schätze den Wind auf Stärke sechs bis sieben auf der Beaufort-Skala. Nach etwa zwei Kilometern erreichen wir einen Fluss, der aus der Vereinigung des Horná mit weiteren aus den Bergen kommenden Wasserläufen entsteht. Kurz vor der Mündung ins Meer macht der Fluss eine Wendung um 90 Grad nach Westen, um dann fast parallel zur Küstenlinie ins Meer zu fließen. Kurz vor der Mündung ist ein Seil von einem Ufer zum anderen gespannt. Der Fluss ist hier relativ schmal, vielleicht sieben oder acht Meter, aber dafür um so reißender. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Furt weiter oben, an einer breiteren, aber ruhigeren Stelle zu versuchen. Wir entscheiden uns, aber nicht zuletzt wegen des Seils, für das Furten an dieser Stelle.

Hlöðuvík: die tiefste Furt unseres Treks

Es ist unschwer zu erkennen, dass das Wasser hier ziemlich tief ist, wir müssen die langen Hosen ausziehen. Ich verkürze die Riemen meiner vor dem Bauch hängenden Fototasche, damit sie nicht in die Fluten eintaucht. Und dann geht es los. Bei den drei anderen habe ich schon gesehen, dass es eine wacklige Angelegenheit ist, bei der starken Strömung auf den rundgeschliffenen Steinen unbeschadet ans andere Ufer zu gelangen. Das Seil ist an dieser Furt wirklich äußerst hilfreich. Mitten im Fluss dreht sich plötzlich ein Kiesel unter meinem Fuß weg, und ich stehe fünfzehn Zentimeter tiefer im Wasser. Eine Welle schwappt gegen meine Fototasche und über sie hinweg. Nur gut, dass ich sie vor der Furt vollkommen geschlossen habe.

Am anderen Ufer angekommen untersuche ich zuerst die Fototasche. Sie hat dicht gehalten, die Kamera ist trocken geblieben. Spätestens jetzt bin ich froh darüber, mich seinerzeit für ein besseres, wenn auch etwas teureres Modell entschieden zu haben.

Wir gehen weiter am Strand entlang, linker Hand lassen wir die mächtige Bastion des fast 600 Meter hohen Alfsfell liegen. Fast am Ende der Bucht müssen wir noch die Kjalará furten. Diesmal finden wir wieder eine “Brücke” aus Treibholz vor, ein Schuhwechsel bleibt uns erspart. Danach steigt der Weg langsam an, er führt uns über saftig grüne Wiesen. Ein Pfad ist bald nicht mehr zu erkennen, so laufen wir oft querfeldein, was im hohen Gras und auf den weichen Moospolstern anstrengend ist.

Mittlerweile stecken wir mittendrin in den tiefhängenden Wolken, die Sicht beträgt kaum 30 Meter. Aber es bleibt trocken, mehr können wir nicht erwarten. Mittlerweile ist der Untergrund wieder steiniger geworden, ab und zu ist sogar ein Pfad zu erahnen. Und plötzlich lichtet sich der Nebel, wir tauchen aus dem grauen Einerlei auf, sind über den Wolken. Kurz vor dem Pass rasten wir noch einmal und genießen die Aussicht. Unter uns liegt, von den tiefen Wolken verhüllt, die Bucht Hælavík. Nur die Spitzen der die Bucht umschließenden Berge sind hoch genug, um aus dem Wolkenmeer herauszuschauen. Es sieht aus, als brande der Nebel gegen die sanft ansteigenden Wiesenhänge. Die Szenerie wechselt alle paar Augenblicke.

Blick zurück auf die mit Nebel gefüllte Bucht Hælavík

Gegen Mitternacht kommen wir am Pass Almenningaskarð an. Unter uns eine geschlossene Wolkendecke, aus der nur die Bergspitzen des Massivs zwischen Hlöðuvík und Fljótavík herausragen. Über uns eine dünne Schicht mittelhoher Wolken. Und dazwischen die fast im Norden stehende Mitternachtssonne, die beide Wolkenformationen anleuchtet, die eine von oben, die andere von unten. Still voller Ehrfurcht vor der Schönheit des Augenblicks halten wir inne. Das ist wieder einer jener Momente, von denen Reinhard Karl meinte, man solle die Erinnerung daran in seine geistige Glasvitrine legen.

Über den Wolken: Sonnenuntergang am Pass Almenningaskarð
Über den Wolken: Sonnenaufgang zwischen  Almenningaskarð und Þorleifsskarð

Langsam verschwindet die Sonne in der dichten Wolkendecke unter uns, in etwa einer halben Stunde wird sie wieder auftauchen. Wir ziehen weiter. Die Bergflanke des Fannalágarfjall liegt zu unserer Linken, zur Rechten, hinter den Bergen, das Meer. Der Weg ist mühsam, über grobes Geröll, Schneefelder und jene tückischen Abschnitte, auf denen man plötzlich bis zum Knöchel im Schlamm versinkt. Gegen halb drei Uhr erreichen wir die zweite Passhöhe, den Þorleifsskarð. Es ist inzwischen wieder ziemlich hell, unter uns liegt der Fljótsvatn, wie der Hafnaros eine Art Lagune, die nur einen schmalen Durchlass zum offenen Meer hat. Der See misst in der Länge etwa fünf Kilometer, seine Oberfläche ist spiegelglatt, ein Zeichen dafür, dass es dort unten windstill sein muss.

Der Fljótsvatn im Morgenlicht

Vor uns liegt nun noch ein mühsamer Abstieg über das Þorleifsdalur. Schneefelder, steile Grashänge, felsige Abschnitte, zum Teil müssen wir die Hände zu Hilfe nehmen. Unten im Talboden müssen wir uns den Weg zwischen zahlreichen kleinen Bächen suchen, die sich hier gebildet haben. Gegen fünf Uhr morgens sind wir an einer Stelle, die wir kurzerhand für unser nächstes Camp erklären. Nach achteinhalb Stunden eindrucksvoller, aber auch anstrengender Wanderung sind wir alle müde. Wir kochen noch eine kräftige Brühe und einen Tee, dann verschwinden wir in unseren Schlafsäcken.

Die Tour bei komoot:
2009-07-04/05: Hornstrandir, Hlöðuvík – Fljótsvatn


Fljótsvatn

Sonntag, 5.Juli

Gegen halb zehn Uhr lockt uns das schöne Wetter aus den Zelten. Blauer Himmel, eindrucksvolle Wolkenformationen und ein kräftiger Wind. Unser Camp liegt inmitten grüner Wiesen, die von einem Geflecht kleiner Bäche mit kristallklarem Wasser durchzogen sind. Man kann sich bequem an den Rand des Baches setzen und die Morgentoilette erledigen. Jeder von uns hat gewissermaßen sein eigenes Badezimmer.

Wolkenspiele: Stratocumulus Lenticularis

Nach dem Frühstück beraten wir über den Weiterweg. Wir haben zwei Möglichkeiten. Die erste: wir wandern, wie ursprünglich geplant, hinüber zur Bucht Aðalvík und von dort aus nach Hesteyri. Das wären zwei volle Tagesetappen. Am Dienstagabend wartet unser Boot in Hesteyri, wir hätten also, den heutigen Tag eingerechnet, drei Tage zur Verfügung. Allerdings darf dann nichts Unvorhergesehenes passieren. Die zweite Möglichkeit: wir legen heute einen Ruhetag ein und gehen morgen auf direktem Weg über Glúmsdalur und Háaheiði nach Hesteyri. Das ist die sichere Variante, bei der wir allerdings die den Beschreibungen nach schöne Bucht Aðalvík auslassen.

In der Aussicht auf einen faulen Tag bei angenehmem Wetter fällt die Entscheidung für Variante zwei. So können wir in aller Ruhe unsere Sachen ordnen, ein paar verschwitzte Sachen herauswaschen, die nähere Umgebung erkunden oder einfach nur im Gras liegen und faulenzen.

Im Laufe des Vormittags wird der Wind immer kräftiger und böiger. Deshalb verziehen wir uns bald in die Zelte, um ein wenig zu lesen oder zu dösen. Ich liege im Halbschlaf, als ich plötzlich ein eigenartiges Geräusch vernehme: rrrrrtsch, rrrrrtsch, zweimal klingt es so als würde man ein Stück Stoff zerreißen. War das jetzt Traum oder Wirklichkeit? Ich schlage die Augen auf und blicke gegen ein ungewöhnlich helles,  von der Sonne beschienenes Innenzelt. So schnell habe ich wahrscheinlich noch nie das Zelt verlassen. Draußen angekommen sehe ich die Bescherung: der böige Wind hat einen 40 bis 50 Zentimeter langen Riss in der Außenhaut hinterlassen. Im Eiltempo knüpfe ich das Zelt vom Gestänge ab und lege es flach auf den Boden, um dem Wind die Angriffsfläche zu nehmen. Die anderen haben sich auch schon aus ihren Schlafsäcken geschält.

An dieser Stelle muss ich ausnahmsweise ein wenig Werbung machen, für das Zelt nämlich, welches uns auf unserer Tour begleitet hat. Ich schicke voraus, dass ich mit der Firma Vaude weder verwandt oder bekannt bin, noch erhalte ich ein Salär für diese Zeilen. Das Zelt, ein Mark II, hatte ich vor fünfzehn (!) Jahren anlässlich unserer ersten Schottlandfahrt gekauft, und es war auf vielen Reisen durch ganz Europa und selbst in Afrika ein treuer Begleiter. Das Aufbauprinzip des Zeltes ist genial einfach: man legt das Zelt auf den Erdboden und steckt das Gestänge aus Spezialaluminium an den vier Ecken der Plane in die dafür vorgesehenen Dorne. An diesem Gerippe hängt man dann mittels elastischer Schnüre die Zelthaut auf, das Innenzelt ist bereits am Außenzelt befestigt. Kein lästiges Einfädeln des Gestänges in irgendwelche Schläuche, kein getrennter Aufbau von Innen- und Außenhaut, mit etwas Übung kann man das Zelt selbst bei Wind allein innerhalb von fünf Minuten aufbauen. Mir ist kein anderes Zelt mit diesem Aufbauprinzip bekannt. Material und Verarbeitung sind erstklassig, es ist dicht und windstabil.

Der Riss im Zelt verläuft genau oberhalb der seitlichen Abspannung, dort wo bei Wind große Zugkräfte angreifen. Außerdem sind im Laufe der letzten 15 Jahre schon etliche Leute im Dunkeln über die seitliche Abspannung gestolpert, was manchmal unvermeidlich ist. Es war also nur eine Frage der Zeit, dass es zu einem solchen Malheur kommt. Übrigens hat Vaude die Schwachstelle offenbar schon erkannt: beim Nachfolgemodell Mark III (das zweite Zelt auf unserem Trek) verläuft an der Stelle, wo der Abspanner angreift, eine stabile Naht. Dort kann das Zelt praktisch nicht mehr reißen.

Wir beraten, was zu tun sei. Der Riss muss genäht werden, eine Reparatur allein mit Klebestreifen würde den bei Wind auftretenden Zugkräften nicht standhalten. Die Naht sollte keine Wulst bilden, damit später die Klebestreifen vollflächig auf dem Stoff aufliegen. Jetzt kommt uns Michas berufliche Erfahrung zugute: als Unfallchirurg hat er schon viele, wenn auch andere Risse genäht. Er schlägt Fasziendopplung nach Mayo vor, eine Naht, die den an sie gestellten Anforderungen genügt. Unser Zelt ist wahrscheinlich das erste, welches diese chirurgische Spezialbehandlung erfährt. Während Micha mit Sternzwirn näht, halte ich die Klammern. Nach einer halben Stunde kann der Wundverband angelegt und der Patient aus der Narkose geholt werden. Die Operation ist gelungen, das Zelt wird, trotz kräftigen Windes, die letzten drei Tage unserer Tour klaglos überstehen.

Notoperation

Der Rest des Nachmittags vergeht ohne besondere Vorkommnisse. Am frühen Abend kommen, mit schweren Rucksäcken bepackt, zwei junge Männer an unserem Camp vorbei, die ersten Wanderer seit zwei Tagen. Der jüngere der beiden ist ein hagerer Fünfzehn- oder Sechzehnjähriger. Respekt. Vor ihnen liegt der steile Aufstieg über das Þorleifsdalur, welches wir tags zuvor herabgekommen sind. Wir beneiden sie im Moment nicht darum.

Zwei einsame Wanderer

Am Abend frischt der Wind noch einmal auf, auf dem Fljótsvatn bilden sich kleine Wellen. Es ist empfindlich kalt geworden, bald verschwinden wir in unseren Zelten.

Wellen auf dem Fljótsvatn

Fljótsvatn – Hesteyri

Montag, 6.Juli

In der Nacht fängt es an zu regnen, und der Wind frischt zum Sturm auf. Als ich einen Blick nach draußen riskiere, bietet sich ein fantastischer Blick: über dem Fljótsvatn hängen tiefe Wolken, weit draußen auf dem Meer steht ein weißer Wolkenturm, der, von der Mitternachtssonne angestrahlt, rötlich leuchtet.

Nächtliches Farbenspiel am Fljótsvatn

Die Temperatur ist gegenüber dem Vortag stark gesunken, am Morgen zeigt das Thermometer gerade mal 7 Grad Celsius. Es regnet leicht. Wir warten ab, vielleicht bessert sich das Wetter wieder. Gegen Mittag sind wir marschbereit, es nieselt nur noch leicht.

Wir steigen über das Glúmsdalur in Richtung Süden auf. Das Gelände ist anfangs nur wenig steil. Wir kommen am Glúmsstaðafoss, einem eindrucksvollen Wasserfall, vorbei. Über saftig grüne Wiesen, die immer wieder von Stellen giftgrünen Mooses durchsetzt sind, zieht der Weg hinauf in Richtung des Passes zur Háaheiði. Der Himmel ist noch immer wolkenverhangen. Während einer Rast probiere ich Michas rosarote Sonnenbrille aus. Und mit einem Mal sieht die Welt viel freundlicher aus. Fast könnte man meinen, es sei prächtiges Wetter. Jetzt wundert mich nicht mehr, dass Micha die Schlechtwetterphasen der vergangenen Tage so klaglos überstanden hat. Mit dieser Brille könnte man selbst einem Schneesturm noch positive Aspekte abgewinnen. Während wir anderen über nasse isländische Wiesen gewandert sind, lustwandelte Micha an irgendeinem Südseestrand, hübsche Hula-Mädchen inbegriffen.

Durch diese Brille sieht die Welt viel freundlicher aus

Gegen halb vier haben wir die Passhöhe erreicht. Vor uns liegt eine riesige Ebene ohne jede Vegetation, die nur von Geröll bedeckte Háaheiði. Die Landschaft erinnert mich an die Lavawüsten des Hochlandes in Zentralisland. Große “Stoamanderl”, aus Steinen aufgeschichtete Türme, weisen den gut einsehbaren, eigentlich eindeutigen Weiterweg. Aber bei dichtem Nebel können diese Markierungen lebensrettend sein.

Wir legen eine kurze Rast ein, doch der kalte Wind lässt uns nicht lange verweilen. Ein letzter Blick zurück zum Fljótsvatn. In der Wolkendecke sind erste Löcher zu erkennen, durch die blauer Himmel schimmert. Inmitten der Geröllebene treffen wir auf einige in dicke Jacken gehüllte Wanderer, die von Hesteyri heraufkommen. Wir wechseln ein paar Worte mit ihnen, bevor jeder seines Weges zieht.

Die Háaheiði, eine trostlose Geröllebene

Am Ende der Geröllebene angekommen bietet sich ein herrlicher Blick auf den vor uns liegenden letzten Wegabschnitt. 500 Meter unter uns liegt der Heysteyrarfjörður, die Häuser von Heysteyri sind bereits zu erkennen. Doch bis dorthin müssen wir noch etliche Geröll- und Schneefelder überqueren, einige Flüsse umgehen und furten, ein paar von den tückischen Sumpfstellen hinter uns bringen. Je weiter nach unten wir steigen, desto besser wird das Wetter. Als wir gegen 19 Uhr in Hesteyri ankommen, ist es angenehm sonnig und warm. Große Wiesenflächen sind mit dem blau-purpurnen Waldstorchschnabel (Geranium sylvaticum) bewachsen. Inmitten dieser Blütenpracht ducken sich die bunten Holzhäuser von Hesteyri, die wir auf der Herfahrt vor zehn Tagen im Nebel nur erahnen konnten, in die Fjordlandschaft. Wir sind am Ziel unserer Reise angekommen.

Wir sind am Ziel unserer Reise angekommen

Natürlich, wir sind froh, unsere Tour wie geplant, von dem fehlenden Abstecher über Aðalvík abgesehen, ohne größere Blessuren hinter uns gebracht zu haben. Doch ähnlich wie bei einer Bergfahrt, mischt sich ein wenig Wehmut in das Glücksgefühl. Die ganze Zeit hat man das Ziel, den Gipfel vor Augen, und wenn man diesen erreicht hat, stellt man plötzlich fest, dass etwas fehlt. Man hat das Abenteuer hinter sich, ein eigenartiges Gefühl von Leere stellt sich ein. Insgeheim denkt man schon an das nächste Ziel. Wirklich oben bist du nie…

Wir kommen zum Old Doctor’s House, einem weiß getünchten, zweigeschossigen Holzhaus mit grünen Fenstern, Türen und Dach. Auf der Veranda vor dem Haus treffen wir René wieder. Er ist von Hlöðuvík aus auf direktem Weg nach Hesteyri gewandert. Im Old Doctor’s House gibt es einfache Übernachtungsmöglichkeiten, René hat sich dort einquartiert. Wir entscheiden uns dafür, unseren Zelten treu zu bleiben, der Campground befindet sich nur wenige Minuten weiter auf einer großen Wiese.

Aber zunächst werfen wir unseren Ballast ab, bestellen uns einen Kaffee und lassen uns die warme Sonne auf den Pelz brennen. Das Old Doctor’s House wird von einer freundlichen alten Dame und deren Schwiegertochter betrieben. Neben ein paar einfachen Speisen sind Kaffee, Tee und Mineralwasser im Angebot. Bier – leider Fehlanzeige.

Das Old Doctor’s House in Hesteyri

Nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass die schon erwähnte Schwiegertochter, eine Frau in den Vierzigern, Deutsche ist. Sie lebt seit etlichen Jahren auf Island, während der zwei, drei Sommermonate hier in Hesteyri, für den Rest des Jahres in Bolungarvík, nordwestlich von Ísafjörður. Wir wollen von ihr natürlich wissen, wie es sich hier auf Island lebt und wie die Menschen mit der Finanzkrise umgehen. Ähnlich wie schon der Leuchtturmwärter von Látravík erzählt auch sie, dass es die Isländer arg getroffen habe. Aber, da sei sie guter Hoffnung, Island werde wohl bald wieder auf den Beinen stehen. Die Isländer seien keine Jammerlappen, schließlich hätten sie gelernt, mit Katastrophen umzugehen.

Wir fragen sie, wie man die lange Zeit der Dunkelheit überstehe. Das sei gar nicht so dramatisch, meint sie. Na ja, manchmal sei es schon schwer, schränkt sie ein. Die Holzhäuser der Isländer seien innen sehr gemütlich eingerichtet. Anfang Dezember beginne man mit den Weihnachtsvorbereitungen, und das eigentliche Fest ziehe sich oft bis Ende Januar hin. Der Februar gehe auch noch, aber dann falle man in ein ziemlich tiefes Loch. Ende Februar werde es zwar schon wieder heller, aber das Wetter sei manchmal zum Davonlaufen. Im Mai gebe es meist noch einmal heftige Winterstürme mit viel Neuschnee. Und dann, im Juni käme plötzlich, ohne Frühling, fast über Nacht, der Sommer. Und die zwei, drei Sommermonate entschädigten für alles. Die Natur explodiere förmlich, und alle Unbill der dunklen Jahreszeit sei vergessen. Bis zum nächsten Mal…

Wir bestellen bei der Hausherrin für kommenden Nachmittag eine Fischsuppe, die René uns empfohlen hat, schultern unsere Rucksäcke und laufen hinüber zum Campground. Der Weg am Strand entlang führt durch einen Hain übermannshoher Engelwurzstauden. Gleich hinter dem Friedhof von Hesteyri liegt eine große Wiese, die als Campground dient. Knapp zehn Zelte stehen schon dort, für uns bleibt also noch genug Platz, ohne dass wir dem nächsten Nachbarn zu nah kommen. Nachdem wir die Zelte errichtet haben, durchforsten wir unsere Rucksäcke nach den restlichen Nahrungsmittelbeständen. Wir haben wirklich gut geplant, viel ist nicht mehr übrig, aber für das letzte Abendmahl wird es noch reichen.

Der Gaskocher surrt leise vor sich hin, wir haben hinter einem kleinen Hügel, der als Windschutz dient, Stellung bezogen und genießen die wärmenden Strahlen der Abendsonne. Irgendwie ist es doch ganz angenehm zu wissen, dass wir morgen nicht weiterziehen müssen. 

Friedhof und Campground von Hesteyri

Die Tour bei komoot:
2009-07-06: Hornstrandir, Fljótsvatn – Hesteyri


Hesteyri – Ísafjörður

Dienstag, 7.Juli

Heute ist unser letzter Tag in Hornstrandir. Die Natur legt sich noch einmal so richtig ins Zeug und beschert uns perfektes Wetter. Das Frühstück genießen wir bei strahlend blauem Himmel und Temperaturen um die zehn Grad Celsius, der Wind hat sich gelegt. Allerdings hat uns seit den frühen Morgenstunden ein seltsamer Vogel immer wieder aus dem Schlaf geholt. Mit seinem nervigen Winseln kreiste er über unserem Campground, entfernte sich dann für ein paar Minuten, um just in dem Moment zurückzukehren, als man gerade wieder am Einschlafen war. Ludwig gibt ihm den treffenden Namen “Jammervogel”.

Fjordlandschaft

Das Boot, welches uns zurück nach Ísafjörður bringt, erwarten wir für heute abend gegen sechs Uhr. Wir haben also noch einen ganzen Tag zur Verfügung. Eine Möglichkeit wäre, hinüber zur Bucht Aðalvík zu laufen, jene Bucht, die wir aus Zeitgründen ausgelassen hatten. Die andere Möglichkeit besteht darin, zu der südwestlich von Hesteyri gelegenen Landzunge Sléttunes, auf der sich ein Leuchtturm befindet, zu wandern. Da wir für 16 Uhr unsere Fischsuppe im Old Doctor’s House bestellt haben, entscheiden wir uns für Möglichkeit zwei.

Der Weg führt uns über Feuchtwiesen, oft müssen wir sumpfige Stellen weiträumig umgehen. Stellenweise geht der Pfad direkt am Strand entlang. Wir kommen an verfallenen Gehöften vorbei, nur ein paar Holzbalken und die Reste von Grundmauern erinnern daran, dass hier einst Menschen gelebt haben. Im hohen Gras neben dem Weg beäugt uns neugierig ein Alpenschneehuhn. Als wir einen grasigen Bergrücken erklimmen, liegt in einiger Entfernung der Leuchtturm von Sléttunes vor uns. Er ist offensichtlich automatisiert und unbewohnt. Es lohnt sich nicht, deswegen den weiten und wahrscheinlich mühsamen Weg bis auf die schmale Landzunge zu nehmen.

Am Strand

Mittlerweile ist es richtig heiß geworden, die Luft hat sicher über 20 Grad Celsius. Das Wetter lädt zu einer ausgedehnten Pause ein. Um nicht den gleichen Weg zurück nehmen zu müssen, entscheiden wir, querfeldein in Richtung Norden zu gehen, irgendwann müssen wir dann auf den Verbindungsweg zwischen Hesteyri und Aðalvík treffen. Anfangs ist es ein angenehmes Gehen über Matten trockenen Grases, aber danach wird der Weg beschwerlich, wir müssen große Felder losen Gerölls überqueren. Endlich stoßen wir auf den Pfad, der uns hinunter nach Hesteyri bringt.

Rast am Hesteyrarfjörður

Wir bauen unsere Zelte ab und packen die Rucksäcke. Gegen 16 Uhr sind wir am Old Doctor’s House, die freundliche alte Dame wartet schon. Kurze Zeit später steht eine verführerisch duftende Fischsuppe vor uns. Wir lassen uns nicht lange bitten. Sie schmeckt hervorragend, dazu würde ein Bier besonders gut passen. Der stark beleibte Isländer am Nebentisch öffnet eine Dose Gerstensafts nach der anderen, aber wir können nur neidvoll zusehen, es sind seine Privatbestände.

Die nette alte Dame (rechts) vom Old Doctor’s House

Auch wenn der Aufbruch schwerfällt, wir müssen langsam hinüber zur Bootsanlegestelle. Wir verabschieden uns von den netten Gastgebern und von René, der noch für einen Tag bleibt. Sein Boot geht erst morgen. Viertel vor sieben legt unsere Fähre am Steg an, es ist dieselbe Besatzung, die uns vor elf Tagen hergebracht hat.

Warten auf das Boot

Langsam entschwindet Hesteyri unseren Blicken. An der Landzunge Sléttunes macht das Boot kurz Halt und nimmt noch ein paar Passagiere auf. Das Wetter ist schön wie schon den ganzen Tag, aber langsam kriechen die ersten Nebel wieder in die Fjorde. Auf dem Wasser ist es empfindlich kalt. Als wir gegen 20 Uhr in Ísafjörður ankommen, liegt bereits eine dicke Nebeldecke über der Stadt. Unweit des Landungsstegs entdecken wir einen Landrover aus Saalfeld.

Als erstes steuern wir die kleine Kneipe an, vor der wir zu Beginn unserer Reise in der Sonne saßen. Draußen ist es schon zu kalt, so suchen wir uns einen Platz im Innern. Dort gibt es irgendeine Familienfeier, etwa 20 Isländer sitzen um einen großen Tisch, essen, trinken, erzählen. Unser erstes Bier ist schnell getrunken, ein zweites folgt. Langsam meldet sich auch der Hunger, aber wir haben Pech. Es ist bereits Küchenschluss. Also schultern wir unsere Rucksäcke und laufen hinüber zum Edda-Hotel. Auf dem Campground stehen nur wenige Zelte. Jetzt wäre eine warme Suppe, so wie in den Tagen unserer Wanderung, gerade recht. Aber unsere Vorräte sind restlos aufgebraucht. “Noch neun Stunden, dann gibt es Frühstück” meint Micha, der wahrscheinlich am meisten von uns allen unter dem Hungergefühl leidet. Auf das reichhaltige Frühstücksbuffet am kommenden Morgen freuen wir uns alle. Wenn nur die Nacht nicht so lang wäre. Noch acht lange Stunden…


Ísafjörður – Reykjavík

Mittwoch, 8.Juli

Wir sind früh aus den Federn, schließlich wollen wir das Frühstück nicht verpassen. Noch schnell duschen, pünklich um halb acht sitzen wir erwartungsvoll im Frühstücksraum. Eine Dreiviertelstunde später sind wir so satt, dass selbst mit Gewalt nichts mehr geht.

Frühstücksbuffet im Edda-Hotel

Wir sind es inzwischen gewöhnt: als wir uns auf den Weg nach Ísafjörður begeben, hängt noch zäher Nebel über der Stadt. Er wird aber bald der Sonne weichen. Unser Flug nach Reykjavík geht erst am Abend, so haben wir heute ausreichend Zeit. Wir schlendern entspannt durch die Geschäfte auf der Suche nach ein paar kleinen Mitbringseln. Mit völlig leeren Händen wollen wir schließlich zu Hause nicht auftauchen.

Nebel über Ísafjörður

Im Hafen ist gerade ein großes Kreuzfahrtschiff vor Anker gegangen. Von einigen der Leute, die dem Schiffsbauch entströmen, ernten wir mitleidige Blicke. Wahrscheinlich sehen wir doch etwas mitgenommen aus, aber die Erlebnisse der vergangenen elf Tage kann uns keiner nehmen.

In der Nähe des Hafens befindet sich das Maritime Museum der Westfjorde. Auf der Wiese vor dem Museum liegen hunderte von gesalzenen Fischlaibern. Aus der Blockhütte schräg gegenüber wehen verführerische Düfte herüber. Nach dem Frühstück waren wir alle der einhelligen Meinung, heute nichts mehr essen zu können, aber diesen kulinarischen Verlockungen können wir nicht widerstehen. Natürlich essen wir fangfrischen Fisch, dazu gibt es ein kühles Viking-Bier. Es bereitet uns erneut etwas Mühe, aber am Ende bleibt nichts auf den Tellern.

Trockenfisch vor dem Maritimen Museum der Westfjorde

Wir suchen einen Briefkasten, müssen noch ein paar Ansichtskarten einwerfen. Da ist auch schon ein Haus, an dem ein Schild mit der Aufschrift Póstur og simi (Post und Telefon) hängt. Das muss eine Post sein. Die Eingangstür ist nicht verschlossen, wir stehen in einem Vorraum, der allerdings nicht wie der eines öffentlichen Gebäudes aussieht. Aber auf Island ist alles etwas anders. Wir öffnen die zweite Tür und stehen plötzlich in einer Art Wohnzimmer. Zwei Leute springen verdutzt von ihren Stühlen auf, wir sind mindestens genauso erschrocken wie sie. Ich stammle ein paar Worte der Entschuldigung, und kehrtwendend begeben wir uns wieder nach draußen. Auf der Straße müssen wir erst einmal kräftig lachen. Wahrscheinlich war das einmal die Post, und man hat nur vergessen, die Aufschrift zu entfernen. Wie hätten wir wohl reagiert, wenn plötzlich ein paar wildfremde, abgerissene Gestalten in unserem Wohnzimmer gestanden hätten? Später in der Stadt finden wir noch einen richtigen Briefkasten…

Das vermeintliche Postamt

Langsam wird es Zeit für uns, zum Campground zurückzukehren. Zelte abbauen, Rucksäcke packen, zum Flughafen laufen. Laufen? Natürlich laufen, wir haben die Rucksäcke fast zwei Wochen über Stock und Stein geschleppt, da werden wir doch vor den paar Kilometern Fußmarsch auf bequemer Straße nicht kneifen. Außerdem sind die Rucksäcke jetzt deutlich leichter und wir selbst besser trainiert.

Gegen 18 Uhr hebt unser Flugzeug in Ísafjörður ab. Da das Wetter noch immer schön ist, haben wir einen interessanten Blick auf die den Ort umschließenden Tafelberge. Vielleicht hätten wir doch noch einen von ihnen besteigen sollen. Das nächste Mal…

Unter uns zieht die Schärenlandschaft des Breiðafjörður und Hvammsfjörður vorbei. Dutzende kleiner, öder, unbewohnter Eilande, kilometerweit von der Hauptinsel entfernt. Plötzlich auf einer dieser Inseln ein einsames Gehöft. Wer hier draußen lebt, muss sich selbst genügen, muss sich sicher sein, dass er dieses abgeschiedene Dasein wirklich will. Im Sommer, bei schönem Wetter – so schön es auf Island eben sein kann – ist es hier sicher traumhaft. Ich liebe einsame Landschaften, aber während der dunklen Jahreszeit hier ausharren zu müssen, kann ich mir nur schwer vorstellen. Aber vielleicht ist es ja auch nur ein Sommerhaus, über das die Winterstürme hinwegfegen, ohne dass irgend jemand Notiz von ihnen nimmt.

Einsames Gehöft im Breiðafjörður

Gegen 19 Uhr landen wir auf dem Inlandsflughafen von Reykjavík. Am Busterminal deponieren wir unsere Rucksäcke und begeben uns auf einen Stadtbummel. Die Hallgrimms-Kirche ist leider noch immer eingerüstet, so kann man ihre wahre Gestalt nur erahnen.

Wir laufen die Laugavegur, die berühmte Einkaufsmeile Reykjavíks, hinunter. Obwohl es mitten in der Woche und schon relativ spät am Abend ist, sind die Straßen noch voller Menschen. Die meisten Geschäfte sind geöffnet. Autokorsos quälen sich im Schritttempo durch die engen Gassen. Flanieren auf isländische Art – das kennen wir schon…

Langsam gehen wir zurück zum Busterminal, wir wollen den letzten Shuttlebus dieses Tages zum Flughafen nehmen. Es ist eine Stunde vor Mitternacht. Die Mittsommersonne zaubert einen hellen Streifen Lichts auf das Wasser des Faxaflói. Es heißt Abschied zu nehmen von Island, dem Land aus Feuer und Eis, dem Land der Farben, dem Land der Fjorde und Fjalls knapp unterhalb des Polarkreises.

Mitternachtssonne über dem Faxaflói

Reykjavík – München

Donnerstag, 9.Juli

Die Nacht im Flughafengebäude von Keflavík ist verdammt ungemütlich. Auf unbequemen Stühlen, halb sitzend, halb liegend, versuchen wir, ein paar Stunden Schlaf zu erhaschen. Die Klimaanlage erzeugt nicht nur ein ständiges leises Rauschen, sondern auch einen unangenehm kalten Luftzug. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, auf den Campground in der Nähe des Flughafens zu fahren und die Nacht dort zu verbringen. Jedenfalls sind wir froh, als gegen sechs Uhr das Leben in den Terminals wieder erwacht und unser Flug bald bevorsteht.

Als unser Flugzeug gegen halb acht in Keflavík abhebt, herrscht dichte Bewölkung. Erst später lockert es wieder auf, so dass wir die Gletscher Myrdalsjökull und Vatnajökull unter uns vorbeiziehen sehen. Im feinen Geäst der Gletscherflüsse spiegelt sich die Sonne. Langsam entschwindet Island unserem Blickfeld.

Gletscherflüsse

Gegen 13 Uhr setzt unser Flugzeug sicher auf dem Rollfeld des Münchner Flughafens auf. An das üppige Grün der Bäume und Wälder muss sich unser Auge erst wieder gewöhnen. Freundliches Wetter empfängt uns, doch wir erfahren, dass es während der letzten zwei Wochen in Deutschland wahrscheinlich mehr geregnet hat, als auf Island. Wir haben einfach Glück gehabt…


Epilog

Bereits geraume Zeit zurück in Deutschland stoße ich beim Googeln zufällig auf den Reisebericht eines Einzelgängers, der ungefähr vier Wochen nach uns in Hornstrandir unterwegs war. Der arme Kerl hat Hornstrandir im wesentlichen bei Nebel, Regen und Sturm erlebt. Und trotzdem, so schreibt er, sei ihm die Wanderung in guter Erinnerung geblieben. Beneidenswerte Frohnatur. Natürlich muss man auf Island immer mit schlechtem Wetter rechnen. Und auch wir wurden davon nicht verschont, haben neben überwiegend freundlichen Tagen auch Regen, Nebel und kräftigen Wind erlebt. Doch hätten wir die grandiosen Ausblicke auf die majestätischen Fjorde und Buchten, die eindrucksvollen Steilklippen, die saftig grünen Wiesen mit den unzähligen Wildblumen nicht gehabt, es wäre nur halb so schön gewesen. Deshalb bin ich dankbar, dass wir solches Wetterglück hatten.

Auch habe ich einen Bericht gelesen, dessen Schreiber sein “sehr persönliches Fazit” zog: habe man einen Fjord gesehen, habe man alle gesehen, es gebe keine Höhepunkte auf der Tour, insgesamt lohne die Schinderei mit dem schweren Rucksack nicht. Man solle sich lieber mit dem Boot in eine der Buchten bringen lassen und von dort aus Tagestouren mit leichtem Gepäck unternehmen.

Ich kann diese Meinung nicht teilen. Für mich waren jede Bucht, jeder Fjord, jeder Pass, jeder See einzigartig. Natürlich ähneln sie einander, das liegt in der Natur der Sache. Auch Musikstücke ähneln einander, alle bestehen sie aus Klängen. Und trotzdem ist jedes Musikstück einzigartig.

Alle haben wir am Ende der Tour eingestanden, dass es Momente gab, in denen man sich gefragt hat, welcher Teufel einen geritten habe, so etwas zu tun. Und doch wollte im nachhinein keiner die Erlebnisse auf unserem Trek missen. Wir werden wohl Wiederholungstäter werden. Zu Fuß auf der berühmten Sprengisandur durchs Hochland Islands, durch den Sarek in Nordschweden, es gibt noch viele lohnenswerte Ziele. Das Wann und Wohin stehen noch nicht fest, aber dass wir es tun werden, das schon. 

Viel Bewegung, viel Schlaf, wenig Essen, kaum Alkohol. Mit einem Wort: (k)ein Wellness-Urlaub. 130 Kilometer über Stock und Stein, durch oft wegloses Gelände, zwei bis drei Pässe pro Tag, oft von Meereshöhe auf drei- bis fünfhundert Meter hinauf und wieder hinunter, auf dem Rücken ein 25-Kilo-Rucksack: das alles zeigt Wirkung. Fast vierzehn Pfund verlorenes, einst überflüssiges Fett konnte ich am Ende der Tour verbuchen. Ich werde mir die “Hornstrandir-Diät” patentieren lassen. Sieben Kilo in elf Tagen. Garantiert. Und man kann soviel essen, wie man (tragen) will.

Das wichtigste aber ist, die Erfahrung mitgenommen zu haben, dass es noch geht. Obwohl ich mir für die nächste derartige Unternehmung fest vorgenommen habe, mit dem Rucksack unter 20 Kilogramm zu bleiben…


Informationen zu Hornstrandir

Hornstrandir ist der nördlichste Zipfel der Westfjorde, abgetrennt durch eine schmale, knapp sechs Kilometer breite Landbrücke zwischen Hrafnfjörður und Furufjörður. Die Landschaft ist durch tief eingeschnittene Fjorde und Buchten gekennzeichnet, die die Küste stark zerklüften. Im Innern der Fjorde findet man saftige Niederungen, die aber unvermittelt in steil aufragende Berge übergehen.

Hornstrandir zählt geologisch zu den ältesten Teilen Islands, es gibt hier keinen Vulkanismus und keine Thermalquellen. Die Hauptgesteinsart ist dunkler Basalt. Die Berge und Hochebenen sind steinig und vegetationsarm, oft aber ohne jeden Bewuchs.

Bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war Hornstrandir stellenweise recht dicht besiedelt (z.B. Hesteyri), aber als der Hering, die Lebensgrundlage der Fischer, ausblieb, wanderten nach und nach alle ab. Verlassene und verfallene Gehöfte und kleine Friedhöfe mit völlig überwucherten Gräbern sind stumme Zeugen aus jenen Tagen.

Wer auf Hornstrandir wandern will, hat zwei Möglichkeiten. Entweder lässt man sich mit dem Boot nach Hesteyri oder Látravik fahren und unternimmt von dort aus Tageswanderungen mit leichtem Gepäck. An den genannten Orten sind einfache Unterkünfte vorhanden, man sollte sich aber auf jeden Fall voranmelden. Oder man packt alles, was man zum Leben braucht, in seinen Rucksack und begibt sich auf Schusters Rappen in die wilde Landschaft. Für mich die authentischere Art, dieses urwüchsige Land zu erleben. Man sollte aber bedenken, dass es unterwegs keine Möglichkeit gibt, seine Vorräte aufzufüllen (außer einem Bier vielleicht). In Notfällen ist man auf sich allein gestellt, Mobilfunkempfang ist eingeschränkt nur an wenigen Punkten möglich. Man kann sich, gerade südlich von Látravik, auch nicht darauf verlassen, unterwegs Menschen zu treffen. Gründliche Vorbereitung, eine einigermaßen gute Kondition und die Fähigkeit, im Notfall improvisieren zu können, sind in dem oft weglosen Gelände unerlässlich.


© QuiverTree 2009

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Author: QuiverTree

5 Gedanken zu „Auf den Spuren des Polarfuchses (2009)“

  1. Lob für die tollen Bilder und Berichte

    Hallo Hartmut,

    nachdem ich jeden Tag mit Spannung auf die Fortsetzung des Reiseberichtes samt der Bilder warte, will ich endlich einmal ein dickes Lob über die Qualität abschicken! Die Fotos sind wirklich einsame Spitze…und durch die Texte erinnere ich mich an manche schon vergessene Begebenheiten. Warte auf die Fortsetzung… Viele Grüße auch an Evi und euch beiden herzlichen Glückwunsch zur zweiten Großelternschaft!

    Micha, Kathleen, Leo und Nele

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  2. Island

    Hi Hartmut,

    jetzt als Ruheständler habe ich endlich Zeit, diese tollen Berichte ausführlich zu lesen. Und ich muss dir unumwunden mein Kompliment aussprechen. Andere legen sowas als Buch auf. Besonders Island hat es mir ja angetan. Die Polarfuchs-Story ist wunderbar.
    Nur, wie kommst du darauf dass es in Island keine Hunde geben sollte? Aus Island kommt der älteste züchterisch seit 1000 Jahre unveränderte und damit “urtümlichste” Rassenhund. Schau auf meine HP vorbei…
    Falls du mal eine Kamtschatka-Reise planst, melde dich doch mal.
    Viele Ostergrüße aus dem verdammt verschneiten Erzgebirge

    Jobo

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  3. Re: Island @Jobo

    Hallo Jobo,

    die Bemerkung mit den Hunden bezieht sich selbstredend nicht auf ganz Island, sondern auf Hornstrandir. Dort gibt es keine ständigen Bewohner (mehr), und das Fehlen von Hunden würde auch aus Naturschutzgründen Sinn machen. Ich glaube, das mal irgendwo gelesen zu haben, kann aber die Quelle nicht mehr belegen.

    Wenn es Dich interessiert, kannst Du Dir auch meinen bebilderten Bericht über unser Laugavegur-Trekking im letzten Jahr anschauen (www.gallery.quivertree.de).

    Kamtschatka steht auch auf meiner Wunschliste ziemlich weit oben. Sollte meine Planung diesbezüglich konkret werden, denke ich an Dich. In diesem Sommer geht es erst mal auf Trekkingtour in den Sarek in Nordschweden. Dann gibt es auch wieder einen Bericht. Und wir sehen uns wahrscheinlich Anfang Juni.

    Ostergrüße aus dem (momentan) schneefreien Alpenvorland.

    Hartmut

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  4. Hornstrandir
    Hallo,
    vielen Dank für den ausführlichen Tourenbericht. Er hat uns sehr geholfen, unsere diesjährige Trekkingtour auf Hornstrandir zu planen.
    Allerdings sind wir von Hornvik in den Veidileysufjördur abgebogen.
    liebe Grüße
    Ute

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