Verfasst: Ende 2010
Tour MMX
Spectrum Club Augsburg, 8.November 2010
Natürlich war ich wieder dabei, bei der “Colosseum Live Tour 2010“. Diesmal im “Spectrum” in Augsburg, am 8.November, gemeinsam mit meinem Sohn. Natürlich waren sie wieder famos. Natürlich haben sie wieder “Lost Angeles” gespielt, eingeleitet von einem viertelstündigen Drum-Solo von Jon Hiseman.
Und doch war es anders als vor drei Jahren.
Das Konzert begann, wie vor drei Jahren, fast pünktlich, mit lediglich fünfminütiger Verspätung. Eine Geste der Achtung des Publikums, finde ich, wenn man dieses nicht ewig auf sein Erscheinen warten lässt. Nicht viele Gruppen gibt es, die das (noch) praktizieren, Colosseum gehört dazu.
Die Zuhörerschaft bestand diesmal fasr nur aus Angehörigen meines Jahrgangs, also 55+. 250 bis 300 Leute hatten sich im “Spectrum” eingefunden. Und Colosseum bot das, was man von ihnen erwartete: Jazz-Rock-Blues vom Feinsten, handwerklich perfekt dargeboten. Sechs grandiose Solisten, das Ergebnis wirkt wie aus einem Guss.
Und doch war es anders als vor drei Jahren.
Chris Farlowe und Barbara Thompson waren die gesundheitlichen Probleme anzumerken. Während Barbara Thompson tapfer die gesamte Zeit auf der Bühne agierte, zog sich Chris Farlowe während längerer Instrumentalpassagen zurück. Es sei ihm verziehen, er ist immerhin 70. Dann solle er einfach nicht mehr auftreten, mag einer einwerfen. Ich würde ihm entgegnen: es ist nach wie vor ein Genuss, die “Bluesröhre” live zu erleben, auch wenn er nicht mehr die Ausdruckskraft und das Temperament von vor 20 oder gar 40 Jahren hat. Und was wäre Colosseum ohne “The voice“. Auch Dave Greenslade und Clem Clempson wirkten irgendwie etwas müde. Vielleicht auch eine Folge der, mit Pausen, schon seit dem Sommer währenden Tournee. Gerade Clem Clempsons furiose Gitarrenläufe und balladeske Passagen in der “Valentyne Suite” und in “Lost Angeles” fielen diesmal sehr knapp aus. Jon Hiseman wirkte wie eh und je frisch und unverbraucht. Das viertelstündige Drum-Solo vor der Überleitung zu “Lost Angeles” ließ einen vergessen, dass auch er schon 66 ist. Was er aus seinem Double Bass Drum Set hervorzauberte, war schier unglaublich.
Knapp zwei Stunden Jazz-Rock vom Feinsten, was wollte man mehr. Viele Auftritte altgewordener Musiker wirken mehr oder weniger peinlich. Nicht so bei Colosseum. Man merkt den Musikern ihre Spielfreude noch immer an, ihr Auftritt wirkt reifer und gesetzter. Colosseum zählt für mich nach wie vor zum Besten, was dieses Genre je hervorgebracht hat.
Nach dem Konzert Autogrammstunde. Ich hatte mein “Colosseum Live“-Album (1971) mitgebracht. In Vinyl. Mit genügend Platz für Autogramme. Barbara Thopson fällt das Schreiben sichtlich schwer. Bewundernswert, wie sie all diese Konzerte durchsteht und dabei noch Großes abliefert. Als ich Dave Greenslade mein Album zum Signieren reiche, zieht er erstaunt die Augenbrauen hoch. “Fourty years ago” sage ich zu ihm. “Fourty years? Four months…” kontert er gewitzt.
Ein anderer Konzertbesucher spricht mich auf mein Album an. Es sei das Beste, was Colosseum je gemacht habe. Ich kann ihm nur beipflichten. Wenn man sich die alten Alben anhört, weiß man, dass Colosseum seinen musikalischen Höhepunkt im Jahre 1971 erreicht hatte. Mehr ging nicht. Das sah auch Jon Hiseman so, als sich Colosseum 1971 auflöste.
Man mag sich fragen, warum sich Colosseum 1994 zu einer Reunion zusammenfand. Aus kommerziellen Gründen sicher nicht, denn obwohl sich Kritiker und Publikum einig sind, dass es sich um eine der besten Rockbands aller Zeiten handelt, kommerzieller Erfolg blieb Colosseum stets verwehrt. Warum sollte sich das nach einer Reunion ändern? Für die perfekte Mischung aus Rock, Blues und Jazz, für die Colosseum wie keine andere Band stand und steht, gibt es keinen Massenmarkt. Und Colosseum hat sich kommerziellem Druck nie gebeugt, ist nie mit dem Mainstream geschwommen. Sie sind sich und ihrem musikalischen Stil immer treu geblieben. Sie haben sich nicht neu erfunden, um einem sich wandelnden Publikumsgeschmack Rechnung zu tragen.
So darf man froh sein, dass sich Colosseum zu einer Reunion entschlossen hatte und noch immer auf Tour geht. Und ist es ein Segen, dass es Medien wie die Schallplatte und die CD gibt. Gerade für mich und mit mir viele andere, die in den 1960ern und 1970ern keine Gelegenheit hatten, Colosseum live zu erleben, geben die Tonkonserven einen guten Eindruck von der Virtuosität und Spontaneität, die Colosseum damals auszeichneten. Und es sind Zeugen des Zeitgeistes jener Jahre, als Rockmusik noch nicht so stark kommerzialisiert war wie heute.
Auf der Rückfahrt in Richtung München fragt mich mein Sohn, welche Gruppe aus jener Zeit mit Colosseum vergleichbar sei. Selbst nach einigem Überlegen muss ich eine Antwort schuldig bleiben, Colosseum ist eben einzigartig. Dann fällt mir doch noch etwas ein: Czesław Niemen. Niemen war ein polnischer Rockmusiker, der im Westen kaum bekannt war. Ende der 1960er und Anfang der 1970er produzierte er einige Alben, von denen “Niemen Enigmatic” das wohl bekannteste war. Es handelt sich um eine gelungene Synthese von avantgardistischer Rockmusik und traditioneller Kirchenmusik. Auf einem weiteren Album, das einfach “Niemen” heißt, finden sich viele Stücke, die vom Stil her ein wenig an Colosseum erinnern. Auf beiden Alben wirken so bekannte polnische Jazz-Saxophonisten wie Zbigniew Namysłowski, Zbigniew Sztyc und Michał Urbaniak mit.
Im Netz kursieren Gerüchte, dass dies die wohl letzte Colosseum-Tour gewesen sei. Es wäre schade, aber man muss es hinnehmen. Sollten sie trotzdem noch einmal touren, ich werde auf jeden Fall dabei sein…
© QuiverTree 2010
“Colosseum Live 1971” auf Vinyl (signiert) | |
Czesław Niemen – Enigmatic (1969) | Czesław Niemen – Niemen (1970 oder 1971) |
Links:
Nachtrag, November 2021
Jon Hiseman, der Spiritus Rector der Band Colosseum, verstarb im Juni 2018. Damit endet die Geschichte einer der besten Live-Bands aller Zeiten. Ich bin froh, sie noch zweimal erlebt zu haben.
Wikipedia-Eintrag zu Colosseum
Colosseum Live
Hallo Hartmut,
habe gerade Deinen Bericht gelesen und bin fasziniert, dass es Colosseum noch gibt bzw. dass sie immer noch auftreten. “Colosseum Live” war meine erste Platte, die ich mir von meinem Taschengeld gekauft habe! Und “Lost Angeles” konnte ich mir stundenlang anhören. Muss ich mir unbedingt wieder besorgen…
Für mich persönlich gibt es nur eine vergleichbare Kultband aus dieser Zeit: “Grobschnitt”. Ein etwas anders gelagerter Musikstil, aber noch heute höre ich regelmäßig “Solar Music” und “Rockpommels Land”! In “neuer” Besetzung touren die tatsächlich auch seit einiger Zeit wieder durch die Lande: http://www.grobschnitt-band.de
Gruß
Klaus