Namibia – die Faszination der Leere (2001)

Verfasst: Anfang 2002

Eindrücke einer Namibia-Reise

Namibia, Oktober 2001

Gott sei Dank. Langsam schiebt sich eine kleine weiße Wolke vor die an einen makellos blauen Himmel geheftete Sonne. Unbarmherzig sendet sie, am Wendekreis des Steinbocks fast senkrecht über uns stehend, ihre Strahlen auf uns herab. Solch ein Wetter wünschten wir uns manchmal nach einem langen mitteleuropäischen Winter, wenn die Natur sich noch im Halbschlaf räkelt und uns nach Licht dürstet. Hier im südlichen Afrika kann die erbarmungslose Sonne leicht zur tödlichen Bedrohung werden, wenn man sich nicht vor ihr und den Gefahren der Wüste zu schützen weiß. Die kleine Wolke verspricht zumindest für ein paar Minuten Linderung von der flirrenden Hitze.

Wir sind seit gut zwei Wochen unterwegs in Namibia, einem der trockensten Länder unseres Planeten. Dass dieser ein blauer sein soll, mag man angesichts der bizarren Urlandschaft, die uns umgibt, nicht so recht glauben. Namibia besteht fast vollständig aus Wüste und Halbwüste. Allein die trockenen Zahlen, mit denen der Mensch ein Land begreiflich und messbar zu machen sucht, sind beeindruckend. Die Nord-Süd-Ausdehnung des Landes beträgt etwa 1500 km, die Ost-West-Ausdehnung zwischen 600 km im Süden und 1100 km im Norden. Mit 824000 km² Landesfläche ist Namibia etwa doppelt so groß wie Deutschland, trotzdem leben dort nur 1,8 Millionen Menschen, ca. 2,2 Menschen pro km². Damit zählt Namibia zu den am dünnsten besiedelten Ländern der Erde.

Trotzdem vermitteln solch spröde Zahlen nur einen schwachen Eindruck vom Land. Oft wird Namibia die „herbe Schönheit Afrikas“ genannt. Die unendliche Weite und Einsamkeit des Landes, die klaren, schnörkellosen Formen der archaischen Landschaften, die intensiven Farben der rostroten Dünen von Sossusvlei, der warmbraunen Naukluft-Berge oder des gleißend gelben Kalahari-Sandes sind der besondere Reiz Namibias. Wer einsame Landschaften sucht, wer die Wüste trotz aller Gefahren ihrer schlichten, klaren Formen wegen liebt, der wird in Namibia seinen Garten Eden finden. Die meisten Menschen werden damit wohl etwas anderes assoziieren.


Im Westen des Landes, an der Atlantikküste, erstreckt sich ein zwischen 80 und 120 km breiter Wüstenstreifen, die Namib. Darf man den Geologen Glauben schenken, ist sie die älteste Wüste der Erde. Sie beginnt im Nordwesten Südafrikas und reicht bis in den Südwesten Angolas. Dass die Wüste unmittelbar an die Atlantikküste grenzt, ist eher ungewöhnlich und einer geografischen Besonderheit, einer Laune der Natur zu verdanken, dem Benguela-Strom. Er bringt kaltes Tiefenwasser aus der Antarktis bis an die Westküste Namibias. Das Wasser ist zu kalt, als dass nennenswerte Mengen davon verdunsten könnten, um Regenwolken zu bilden. So fallen hier kaum Niederschläge, aber der Benguela-Strom sorgt für die beständigen Küstennebel. In den direkt am Atlantik gelegenen Städten Lüderitz und Swakopmund hält sich das zähe Grau bis oft bis in die späten Vormittagsstunden, und in eine warme Jacke gehüllt kann man sich nur schwer vorstellen, dass 50 km weiter östlich die Wüstensonne mit unerbittlicher Härte das Land ausdörrt.

Diesem Nebel ist es zu verdanken, dass es überhaupt Leben in der Namib gibt, denn er stellt oft über Jahre hinweg die einzige Quelle des lebensspendenden Nasses dar. Allerdings ist es nur wenigen Überlebenskünstlern gelungen, sich diese Wasserquellen zu erschließen. Zu ihnen zählt z.B. der Tenebrio-Käfer (afrikaans: Tok-Tokkies). Man sollte glauben, er verstünde etwas von Physik, wenn er in den frühen Morgenstunden einen Dünenkamm erklimmt, sich in den Kopfstand begibt und darauf wartet, dass die an seinem Körper kondensierende Flüssigkeit langsam nach unten in seine Mundöffnung rinnt. Die Evolution erfindet oft die bizarrsten Tricks und Konstruktionen, um das Überleben ihrer Geschöpfe zu sichern. Dabei ist sie ein „blinder Uhrmacher“, wie es der Evolutionsbiologe Richard Dawkins einmal poetisch umschrieben hat. Und trotzdem hat sie solch geniale Konstruktionen wie das menschliche Auge oder das Ultraschall-Navigationssystem der Fledermäuse geschaffen. Sie hatte einfach genug Zeit…

Tenebrio-Käfer (Tok-Tokkies) in den Dünen von Sossusvlei

Im Südwesten Namibias und im Nordwesten Südafrikas gibt es einen weiteren Überlebenskünstler, diesmal aus dem Reich der Pflanzen, den Köcherbaum (afrikaans: Kokerboom). Er ist endemisch, kommt also nur in diesem Teil der Erde vor. Genaugenommen ist er kein Baum, sondern eine Aloen-Art. Der Köcherbaum liebt felsige Hügellandschaften, oft findet man ihn inmitten schwarzbrauner, scheinbar von der Sonne verbrannter Felsblöcke aus Granit, die die Wärme besonders gut und nachhaltig speichern. Köcherbäume werden bis zu 9 m hoch, 300 Jahre alt und überstehen mehrere aufeinanderfolgende Dürreperioden. Der Köcherbaum verdankt seinen Namen dem Umstand, dass die Ureinwohner der trockenheißen Regionen im Südwesten Namibias, die San (Buschmänner), bis heute aus den Ästen des Baums Köcher für ihre Pfeile fertigen.

Köcherbaumwald bei Keetmanshoop

Inmitten des Wüstenstreifens der Namib, etwa auf halbem Weg zwischen Lüderitz und Walvis Bay, liegt einer der schönsten, deshalb auch meistbesuchten Orte Namibias Sossusvlei. „Vlei“ ist afrikaans und bezeichnet eine Senke, in der sich nach seltenen, aber nicht selten um so heftigeren Regengüssen Wasser sammelt. Die Regenfälle mit den damit verbundenen Sturzfluten können so stark sein, dass man durchaus Gefahr laufen kann, dabei ums Leben zu kommen, wenn man sich gerade am falschen Ort befindet. Auch wieder einer der schier unglaublichen Fakten: in Wüsten sollen mehr Menschen ertrinken als verdursten.

Freunde berichteten, dass sie vor einigen Jahren einen der seltenen Regengüsse in Sossusvlei erlebten. Verstöße gegen die Regel, dass im Gebiet von Sossusvlei nicht übernachtet werden darf, werden von den Nationalpark-Behörden streng geahndet. So versuchten sie, Sossusvlei auf der offiziellen Schotterpiste so schnell wie möglich zu verlassen. An der nächsten Straßensenke war allerdings Schluss mit dem Weiterkommen, die auf ca. 2 m Höhe angestiegenen Wassermassen wären selbst mit einem Landrover nicht zu bewältigen gewesen. Wie war das doch gleich mit dem Ertrinken in der Wüste? So waren besagte Freunde aufgrund der äußeren Umstände gezwungen, die Nacht im Park zu verbringen und das Sinken des Wasserspiegels abzuwarten. Das weitaus größere Übel allerdings war der Erklärungsnotstand gegenüber den Park Rangers am nächsten Tag…

Sossusvlei ist vor allem berühmt wegen seiner bis zu 300 m hohen Dünen, die – schon wieder ein Superlativ – zu den höchsten der Erde zählen. Zu den schönsten gehören sie zweifellos mit ihren klaren, ehrlichen Formen und ihrer intensiven, rostroten Färbung. Zusammen mit dem tiefblauen Himmel wirkt das Ganze wie von einem Maler in Szene gesetzt.

Düne 49, Sossusvlei

In Sossusvlei findet man fast ausschließlich sog. Sterndünen, Dünen also, die ihre Kämme in alle möglichen Himmelsrichtungen entsenden. Dies liegt in der ständig wechselnden Windrichtung begründet. Zudem haben die Dünen von Sossusvlei meist einen ortsfesten Kern aus Gestein, der der seit Jahrmillionen wirkenden Erosion bisher hat widerstehen können. In Küstennähe findet man in der Namib Vertreter einer weiteren wichtigen Dünenform, die von einer Vorzugswindrichtung geprägten Längsdünen.

Das Dead Vlei im Zentrum der Dünenlandschaft von Sossusvlei wirkt wie aus einer anderen Welt. Eine weite, ebene Salzpfanne, das Vlei, umrahmt von gigantischen Dünen, beherbergt die von der Sonne ausgebleichten Reste abgestorbener Akazien. Ein Baumfriedhof mitten in der Wüste. Man fragt sich unwillkürlich, wie die wohl einmal dort haben überleben können. Die Salzpfanne entsteht, wenn von den alle sieben bis zehn Jahre vorkommenden Regenfällen Mineralien aus dem Boden ausgewaschen werden und beim darauffolgenden Verdunsten des Wassers an der Oberfläche zurückbleiben. Diese Salzpfannen dienen u.a. den gelegentlich anzutreffenden Oryx-Antilopen („wild, fast and dangerous“) als Spender für das lebenswichtige Salz.

Dead Vlei, Sossusvlei

Anderer Ort, andere Geschichte. Mirabib. Schon der Name klingt geheimnisvoll, fast mystisch. Mirabib zählt für mich zu den schönsten Orten in Namibia, wobei Schönheit in diesem Falle wahrhaftig im Auge des Betrachters liegt. Mirabib ist nichts anderes als eine Ansammlung einiger Granitfelsen, denen die Erosion bizarre Farben und Formen verliehen hat, gelegen inmitten einer Sand- und Geröllwüste. Erosion – das ist in diesen Breiten übrigens nicht das Wirken von Regen, Schnee, Eis und Wind, sondern der ständige extreme Temperaturwechsel zwischen Tag und Nacht, der das Gestein in dünnen Schichten an der Oberfläche, gleich Zwiebelschalen, aufbricht.

Die Felsen von Mirabib zählen geologisch gesehen zu den sog. Inselbergen, sie sind steile Berge, vorwiegend aus Granit, die sich unvermittelt aus der flachen Ebene erheben. Weitere prominente Vertreter der Inselberge sind die berühmte Spitzkoppe, das Matterhorn Namibias, und der Vogelfederberg, unweit von Mirabib.

Im Umkreis von vielleicht 50 km gibt es keinerlei Zeichen menschlichen Tuns, von den Schotterpisten oder Pads, wie sie hier genannt werden, einmal abgesehen. Die Geologen Piotr Migon und Andrew Goudie schrieben einmal: „Mirabib … is situated in the middle of nowhere, on a dirt track …“. Mirabib ist der einsamste Campground, den wir auf unserer Reise durch Namibia kennengelernt haben.

Als wir mit drei geländegängigen Autos in Mirabib, dieser Oase aus Stein inmitten einer Geröllwüste, ankommen, fühlen wir uns sofort heimisch. Der „Campground“, ein Areal von vielleicht einem viertel Quadratkilometer befindet sich inmitten skurriler Felsgestalten, und daran, dass wir uns auf einem Campground befinden, erinnert allenfalls die kleine Holzhütte in einem abgelegenen Teil des Geländes. Aber in der Wüste hat man sowieso stets einen Spaten dabei, mit dessen Hilfe man die unvermeidlichen Rückstände menschlicher Verdauung sicher verwahren kann.

Mirabib im Abendlicht, Namib-Naukluft-Park

Natürlich verführen uns die schönen Wände und Risse der Felsen zum Klettern, ein Seil hätten wir schließlich dabei. Aber vorher müsste man sich erst ans „Zwiebelschälen“ machen, um die losen Gesteinsschichten zu entfernen. Und soviel Gewalt wollen wir der Natur nicht antun, also überlassen wir der Erosion der kommenden Jahrzehntausende das “Spiel mit dem Fels”.

Unsere improvisierte Tafel für die Mahlzeiten entsteht im Schatten eines der größeren Felsen, und nachdem die Dachzelte errichtet und die täglichen kleinen Routineaufgaben erledigt sind, begebe ich mich mit meiner Kamera auf Erkundungstour.

Die Felsgestalten erglühen im Licht der späten Nachmittagssonne in rotgoldenen Farbtönen, und die Stille der Wüste wird von keinem Geräusch gestört. Das ist eine der markantesten Erfahrungen, die man in der Wüste machen kann: die absolute Stille. Es gibt keine Vögel und keine Insekten, und dem Wind fehlen die Gräser, in denen er rauschen könnte. Die Stille ist im ersten Moment fast unerträglich, paradoxerweise erinnert sie mich an Edvard Munchs Bild „Der Schrei“.

Nach einigen Minuten bin ich am westlichen Ende von Mirabib angelangt, und der Anblick, der sich mir bietet, ist außerirdisch. Die Sonne steht nur noch eine Handbreit über dem Horizont, der die völlig ebene Geröllwüste scheinbar in der Unendlichkeit begrenzt. In den letzten Minuten bis zu ihrem Verschwinden nehme ich die Erhabenheit und maßlose Schönheit dieser kargen und doch so grandiosen Landschaft in mich auf. Jahre später habe ich ein Déjà-vu-Erlebnis der besonderen Art: als ich Stanley Kubricks Science-Fiction-Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ sehe, kommen mir die Landschaften in einigen Einstellungen des Films irgendwie bekannt vor. Und tatsächlich verrät der Abspann des Films, dass Teile der Außenaufnahmen im südwestlichen Afrika gedreht wurden. Details werden nicht genannt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Stanley Kubrick einen der Sonnenuntergänge in seinem Film an ebendiesem Ort eingefangen hat. Kurioser Zufall: wir waren genau im Jahre 2001 in Mirabib

Sonnenuntergang in Mirabib, Namib-Naukluft-Park

Auf dem Rückweg zu unserer Wagenburg aus Landrovern läuft mir unvermittelt ein Hase mit ungewöhnlich langen und großen Ohren über den Weg. In der Stille der Wüste braucht man offenbar große Ohren, um auch das leiseste Geräusch wahrnehmen zu können. Noch so ein Überlebenskünstler: woher mag er seine Nahrung, sein Wasser in dieser fast vegetationslosen Umwelt beziehen…

Wüstenhase, Mirabib, Namib-Naukluft-Park

Nach dem Abendbrot sitzen wir noch in gemütlicher Runde beisammen und lassen die Erlebnisse der letzten Tage Revue passieren. An das grandiose Firmament über uns sind Millionen von Sternen geheftet. Pardon – die Astronomen lehren uns, dass man mit unbewaffnetem Auge nicht mehr als ca. 6000 Sterne sehen kann. Aber lassen wir diesmal die Poesie über die nüchterne Wissenschaft siegen, und bleiben wir bei den Millionen. Wenn man die Schriften der Wissenschaftler vergangener Jahrhunderte liest, hat man sowieso den Eindruck, dass sich Poesie und Wissenschaft früher näher waren.

Auf jeden Fall ist es der fantastischste Sternenhimmel, den ich jemals sah. Dies liegt an der extrem reinen Luft und dem Fehlen jeglichen, von der Zivilisation erzeugten Fremdlichts. Lediglich die ungewohnt auf dem Rücken liegende, schmale Mondsichel erzeugt ein fahles Licht.

Felsgestalten im Mondlicht, Mirabib, Namib-Naukluft-Park

Irgendwann kommt jemand aus der Runde auf den Gedanken, dass man in diesen Breiten eigentlich das Kreuz des Südens sehen müsse. Nur können wir uns nicht so recht auf eines der zahlreichen, uns unbekannten Sternbilder einigen. Also versuchen wir es zunächst einmal mit der Bestimmung der Himmelsrichtungen, was, nachdem die Nacht vollends hereingebrochen ist, sich als nicht weniger schwierig herausstellt. Ein GPS hätten wir ja dabei, aber diese Blöße wollen wir uns nun doch nicht geben. Plötzlich verlässt Christoph, einer unserer Mitreisenden, die Runde mit den Worten: „Ich geh’ jetzt mal um den Felsen herum und schau’, ob dort Norden sein könnte…“.


Rückblende: das erste Mal hatten wir Namibia während einer Südafrika-Reise besucht. Von Springbok aus, dem letzten Vorposten der Zivilisation im Nordwesten Südafrikas, hatten wir einen Abstecher zum Fish River Canyon gemacht. Der Nordwesten Südafrikas ist schon trockenes, karges Land genug, aber die Grenze zu Namibia ist nicht nur eine politische, sondern auch eine geografische. Wenige Kilometer hinter der Demarkationslinie kommt man in eine unendlich weite, fast vegetationslose Ebene, aus der sich in der Ferne einige Tafelberge erheben. Zwischen dem Verlassen der asphaltierten Straße und dem Fish River Canyon liegen noch knapp 100 km Sandpiste. Im Nationalpark angekommen sieht man noch immer nichts von der berühmten Schlucht. Die Schotterpisten dort sind allerdings die Grenze dessen, was man einem normalen PKW zumuten kann.

Wir halten auf eine strohgedeckte, seitlich offene Rundhütte zu, offensichtlich als Unterstand zum Schutz vor der gleißenden Sonne gedacht. Erst jetzt ahnt man, dass man sich an der Abbruchkante zum Canyon befindet. Wir sind allein. Wenige Schritte sind es noch, dann halten wir in ehrfürchtigem Staunen inne. Wir blicken bis zu 550 m tief bis auf den Grund des Canyons und gleichzeitig etwa 2 Milliarden Jahre in der Zeit zurück. Die dunklen Gesteinsschichten der steilen Uferböschungen stammen nämlich aus der Erdfrühzeit. Am Grund des Canyons windet sich der Fish River, oder das, was von ihm zu dieser Jahreszeit noch übriggeblieben ist, in einer engen Schleife um einen Berg. Ähnlich wie beim Grand Canyon auf dem Colorado-Plateau im Südwesten der USA liegt hier ein aufgeschlagenes Lehrbuch der Geologie vor uns. Mit seinen 160 km Länge und einer Tiefe von 550 m kann es der Fish River Canyon als zweitgrößter seiner Art mit dem Grand Canyon zwar nicht aufnehmen, an Grandiosität steht er ihm aber in nichts nach.

Fish River Canyon

Wir laufen ein Stück am Rand des Canyons entlang. Die Stille der Wüste schlägt uns erneut in ihren Bann. Die Schiefer- und Quarzitscherben unter unseren Bergstiefeln geben seltsame Töne von sich, so, als hätten sie lange Zeit in einem Lagerfeuer gelegen, wie gebrannter Ton.

Im Grand Canyon wären wir schon Dutzenden lärmender Menschen begegnet, hier sind wir noch immer allein. Vor uns steckt eine kleine Tafel im Boden: Hiking Trail, 85 km. Der Startpunkt einer Wanderung durch den Canyon. Sie ist allerdings nur im hiesigen Winter möglich, dann findet man genügend Wasser am Grund des Canyons. Ein Gesundheitszeugnis, nicht älter als 40 Tage, den Park Rangers vorzulegen, soll vor den Folgen einer Selbstüberschätzung bewahren. Die Wüste ist eben mehr als ein großer Sandkasten.

Fish River Canyon, Startpunkt des Trails

Ich steige ein paar Dutzend Höhenmeter in den Canyon hinab, ohne Wasser und Gesundheitszeugnis, nur um die Erhabenheit dieser urweltlichen Landschaft aus einer anderen Perspektive zu erleben. Wieder sind Einsamkeit und Stille die stärksten Eindrücke in dieser Umgebung. Ich bin zwar kein religiöser Mensch, aber in diesem Moment erahne ich, warum gerade die Eremiten, die abseits jeglicher Zivilisation die innere Einkehr suchten, sich Gott besonders nah wähnten.

Bei einer Bergfahrt ist der zweite Teil, der Abstieg, nicht unbedingt ungefährlicher als der Aufstieg, dafür aber weit weniger schweißtreibend. Jetzt ist es genau umgekehrt: die zweite Hälfte meiner „Bergfahrt“ treibt mir das Wasser aus allen Poren. Weh dem, der sich unbedacht und ohne eine ausreichende Ration des lebensspendenden Nasses bis auf den Grund des Canyons wagt. Die Wüste verzeiht keine Fehler.

Wieder oben angelangt, haben sich doch noch zwei Autos mit staunenden Menschen eingefunden. Wir müssen uns langsam auf den Rückweg nach Springbok machen, es liegen noch etwa 300 km Strecke vor uns. Auf den knapp 100 km Sandpiste begegnet uns kein einziges Auto, und wir hoffen insgeheim, dass das unsere durchhalten möge…

Gegen 10 Uhr abends langen wir wieder in unserem kleinen Hotel in Springbok an, in dem wir zwei von etwa fünf oder sechs Gästen sind und das dezent den Charme längst vergangener Zeiten ausstrahlt. Im Speisesaal sind wir die letzten, die einzigen der wenigen Gäste. Trotzdem hat das Personal geduldig auf unsere Rückkehr gewartet. Gastfreundschaft auf südafrikanisch…


Ortswechsel. Wir sind im Kuiseb Canyon, dem Bett eines der zahllosen Trockenflüsse Namibias, die nur nach ausgiebigen Niederschlägen Wasser führen. In der Trockenzeit vom Flugzeug aus gesehen gleichen sie den Lebenslinien einer Hand. Wir führen ausreichend Flüssigkeit mit uns und wandern ein Stück in den Canyon hinein. Auf der die eine Seite des Canyons begrenzenden Felsbarriere begrüßt uns eine aufgeregte Horde lärmender Paviane. Wir sind wohl in ihr Revier eingedrungen, und sie glauben nun, es verteidigen zu müssen. Nach einer halben Stunde machen wir Rast im Schatten einer Felswand. Die wenige Feuchtigkeit, die hier dem Felsen entspringt, reicht aus, um eine kleine grüne Oase entstehen zu lassen. Es ist immer wieder faszinierend, wie extrem anspruchslos manche Formen irdischen Lebens sind.

Im Kuiseb Canyon

Wir fahren weiter über den Kuiseb Pass. Es ist eine Landschaft, wie man sie vielleicht auch auf dem Mond antreffen könnte: schroff, menschenfeindlich, unbegreiflich. Und doch haben hier, knapp 60 Jahre zuvor, die zwei deutschen Geologen Henno Martin und Hermann Korn zwei Jahre in der Wüste gelebt und ums Überleben gekämpft. Sie hatten 1935 Nazideutschland verlassen, um in Namibia Wasservorkommen für die deutschen Farmer zu erkunden. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges drohte ihre Internierung, und so entschlossen sie sich, in die Wüste zu flüchten. Henno Martin hat später ein eindrucksvolles Buch über die gut zwei Jahre ihres Überlebenskampfes geschrieben („Wenn es Krieg gibt, gehen wir in die Wüste“). Aus Angst vor dem Entdecktwerden wechselten die beiden Männer mit ihrem Hund Otto und einem Lastwagen mehrmals ihren Aufenthaltsort und lernten, von dem wenigen zu leben, was diese lebensfeindliche Umgebung bietet. Nach mehr als zwei Jahren mussten sie wegen einer lebensbedrohlichen Vitaminmangelerkrankung in die Zivilisation zurückkehren und eine, wenn auch nur kurze Internierung in Kauf nehmen. Ironie des Schicksals: Hermann Korn kam nur ein Jahr nach dem Ende des Krieges in Namibia bei einem Autounfall ums Leben. Henno Martin kehrte später nach Deutschland zurück und starb dort 1998.

Trockenfluss am Kuiseb Pass

Wir sind an der Henno Martin Shelter, einem der Orte, wo die beiden Männer zeitweise gelebt haben. Ringsum eine grandiose Landschaft, allerdings, darin sind wir uns einig, muss man wohl eine gehörige Portion Enthusiasmus und Erfindergeist mitbringen, wenn man das Leben in dieser Umgebung auf sich nimmt, um einer Internierung zu entgehen.


Noch eine Geschichte: Koiimasis. Klangvoller Name für eine Farm mitten in den Tiras-Bergen im Südwesten Namibias. Unsere Freunde Christoph und Inge hatten die Farm und das nette Farmerehepaar schon zwei Jahre zuvor kennengelernt.

Die Farm Koiimasis in den Tiras-Bergen

Wulff – sein Urgroßvater kam mit der deutschen Schutztruppe Anfang des letzten Jahrhunderts nach Südwest – ist heute Herr über ein Areal von 80000 ha trockenen, kargen Farmlandes, mit silbrig-weiß glänzendem Gras bewachsen. Er spricht ein gepflegtes, akzentfreies Hochdeutsch und gesteht uns, dass dies nicht immer so war. Bis vor wenigen Jahren hat er sich, aus Angst, etwas falsches zu sagen, nicht getraut, mit seinen Gästen deutsch zu sprechen. Davon ist heute nichts mehr zu spüren.

Seine Frau Anke, eine weiße Südafrikanerin aus Kapstadt, hat er mit einem kleinen Trick hierher gelockt, wie er uns mit einem verschmitzten Lächeln verrät. Er besuchte mit ihr die Farm nach einem der seltenen Regenfälle, wenn die Halbwüste in allen Farben erblüht. Sie war begeistert und ahnte nicht, wie selten sie fortan ein solches Blumenmeer zu Gesicht bekommen würde. Heute haben beide ein erträgliches Auskommen auf ihrer Farm, wobei sie ihren Erfolg auf mehrere Säulen gründen. Rinder- und Straußenzucht sind die klassischen Standbeine, hinzu kommen die Zucht von Ziervögeln, die sich vor allem nach Australien gut verkaufen, und, in den letzten Jahren an Bedeutung zunehmend, ein sanfter Tourismus. Pferde stehen für ausgedehnte Ausritte zur Verfügung, selbst ein Pferdeflüsterer ist zeitweise auf der Farm.

Gäbe es einen Preis für den schönsten naturnahen Campground, der von Koiimasis wäre einer der ersten Anwärter. Etwa 2 km vom Farmhaus entfernt befindet sich ein Talkessel, an drei Seiten von den Ausläufern der Tiras-Berge begrenzt, unser Zuhause für die nächsten zwei Tage. Unter einer schattenspendenden Akazie errichten wir unsere Tafel, nebenan befindet sich ein aus Natursteinen gemauerter Küchentrakt, 50 m weiter die Sanitäranlagen, ebenfalls aus Naturstein, behutsam und unauffällig in die Landschaft eingepasst.

Am nächsten Morgen steige ich vor Sonnenaufgang mit der Kamera auf einen der Hausberge. Von weit oben sehe ich, dass wir Nachbarn haben. Etwa 500 m von uns entfernt, durch einen Felsriegel abgetrennt, stehen zwei weitere Autos. Wir hatten davon bisher nichts bemerkt…

Den Tag verbringen wir mit einer Wanderung und dem Erschließen einer neuen Klettertour an einem der zahllosen Felsen auf dem Farmgelände. Die Hitze setzt uns dabei arg zu, auf dem Abstieg kommen wir durch völlig wildes Terrain, das wahrscheinlich noch nie ein Mensch betreten hat.

Am Abend kommt Wulff, unser Gastgeber, zu uns herüber auf den Campground. Er hat Straußenfleisch, das gute Windhoek-Bier und ein paar Flaschen Wein dabei. In gemütlicher Runde am Lagerfeuer lassen wir uns all die Köstlichkeiten munden und erfahren ganz nebenbei Interessantes über das Farmleben.

Es ist ein freies, aber kein leichtes Leben. Das elementare Problem hier im trockenen Südwesten Afrikas ist das knappe Wasser. Deshalb ist die Erhaltung der vorhandenen und der Bau neuer Brunnen extrem wichtig. Der nächste Laden, wo man seine Vorräte auffrischen kann, ist in Helmeringshausen (klingt irgendwie deutsch), etwa 120 km entfernt. Schotterpiste wohlgemerkt. Da sollte man seine Einkaufsliste sorgfältig planen.

Überhaupt trifft man in Namibia auf viele deutsche Ortsnamen: Warmbad, Seeheim, Feldschuhhorn, Buchholzbrunn, Schakalskuppe, Ausweiche, Grasplatz, Lüderitz… Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Es soll selbst nichts ungewöhnliches sein, auf Menschen schwarzer Hautfarbe zu treffen, die einen deutschen Namen tragen und deutsch sprechen. Die koloniale Vergangenheit vom Beginn des letzten Jahrhunderts hat ihre Spuren hinterlassen.

Die beiden Kinder des Farmerehepaars leben im Internat in Windhoek, wo sie die Schule besuchen, und sie kommen zweimal im Jahr nach Hause. Wulff erzählt, dass sie gern hier draußen sind, aber nicht unglücklich wirken, wenn sie wieder in die Stadt zurückkehren. Sollte jemand ernsthaft krank werden und dringend medizinische Hilfe benötigen, gibt es einen Buschflieger, der einen ins nächste Krankenhaus bringt. Selbst über Telefon- und Internetanschluss verfügt man hier draußen, auch wenn alles etwas archaisch wirkt. Und als wir am nächsten Morgen von Koiimasis Abschied nehmen und uns mit einem Trinkgeld für die netten Tage bedanken, wird uns wieder bewusst, dass man hier in anderen Kategorien denkt: erfreut teilt Wulff uns mit, dass das Trinkgeld soundsoviele Meter Zaun für die Einfriedung der Farm ausmache… Nimmt man der Einfachheit halber das Farmgelände als quadratisch an, kommt man auf etwa 120 km Zaun. In Wahrheit ist es sicher mehr. Da müssen noch einige „Tips“ fließen…


Das Kaokoveld im Nordwesten Namibias ist eine auch heute noch selten besuchte Region. Sie ist die Heimat der Himba, dieser kakaobraunen Menschen, die leider nur noch selten in ihren ursprünglichen, traditionellen Familienverbänden leben. Die „Segnungen“ der Zivilisation haben auch ihren Lebensraum stark eingeengt, wenn nicht zerstört.

Sesfontain, einer der wenigen größeren Orte in der Region, besteht aus einer Tankstelle, dem People’s Corner Shop, einem alten deutschen Fort und vielleicht 100 Hütten. Von Sesfontain aus unternehmen wir eine geführte Tour in das ausgetrocknete Flussbett des Hoanib River – das Reich der berühmten Wüstenelefanten. Dank der Ortskenntnis und Geduld unseres Guides bekommen wir auch tatsächlich welche zu Gesicht. Wüstenelefanten sind kleineren Wuchses als normale Elefanten und legen täglich Dutzende von Kilometern auf der Suche nach Wasser zurück. Sie haben ein untrügliches Gespür für unterirdische Wasseradern entwickelt, über denen sie nach dem lebensspendenden Nass graben.

Wüstenelefant, Hoanib River, Kaokoveld

Für die Rückfahrt nach Sesfontain wählt unser Guide einen anderen Weg. Wir fahren über unendlich weite, mit silbrigem Gras bewachsene Hochebenen, aus denen in der Ferne einige Berge herausragen. Oryx-Antilopen grasen friedlich in dieser grandiosen Urlandschaft und nehmen kaum Notiz von uns. An einem Steinhügel machen wir Rast und entdecken – man glaubt es kaum – auf einer umgedrehten Blechtonne abgestellt, ein Telefon. Irgendwer hat dann nur vergessen, den Anschluss herzustellen. Please hold the line…

Oryx-Antilope, Kaokoveld
Please hold the line…, Wüstentelefon, Giribes Plains

Irgendwann verlässt unseren Guide sein guter Orientierungssinn und wir stellen fest, dass wir uns verirrt haben. Glücklicherweise ist auch uns Mitteleuropäern noch ein Rest instinktiven Wissens aus grauer Vorzeit geblieben, und in namibischdeutscher Gemeinschaftsarbeit schaffen wir es, vor Einbruch der Dunkelheit in einem unvergesslichen Streiflicht, welches das Herz eines jeden Fotografen höher schlagen lässt, das alte Fort in Sesfontain zu erreichen.

Die kleine weiße Wolke hat die Sonne wieder freigegeben, die ihre gleißenden Strahlen nun wieder zu uns entsendet und mich aus meinen Tagträumen in die Realität zurückholt. Wirkliche Abkühlung wird erst die kommende Wüstennacht bringen, die durchaus empfindlich kalt werden kann. Dann werden wir wieder der Faszination des unglaublich klaren Sternenhimmels mit den ungewohnten Sternbildern erliegen, und gegen Morgen, wenn die letzte Glut des Lagerfeuers erloschen sein wird, wird ein neuer, heißer Tag über den unendlichen Weiten des kargen und doch so schönen Landes im Südwesten Afrikas anbrechen.


Nachtrag 2021:

Damals, im Oktober 2001, gab es noch kein GPS für Normalbürger, und eine verlässliche Karte für das Kaokoveld hatten wir auch nicht dabei. So wussten wir damals tatsächlich nicht, wo wir uns befanden. Viele Jahre später, zu Zeiten von Google Maps, Google Earth und Google Bildersuche, habe ich versucht, den Ort des “Wüstentelefons” ausfindig zu machen. Und ich war tatsächlich erfolgreich: es handelt sich um einen kleinen felsigen Hügel in den Giribes Plains, seine WGS84-Koordinaten sind: 19° 5′ 43.94″ S 13° 19′ 27.74″ E.


© QuiverTree 2001

QuiverTree
Author: QuiverTree

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